Eine falsche Hoffnung
Man schrieb das Jahr 1985. Back to the Future war damals mein Lieblingsfilm. Whams Careless Whisper sowie das Lied von Madonna Material Girl ertönten ständig aus meinen Radiolautsprechern. Als ich in der 5. Klasse war, lernte ich etwas über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Aus den Schulbüchern erfuhr ich von der Rassendiskriminierung und den separatistischen Jim Crow Gesetzen und ich war wirklich schockiert über deren offensichtliche Inhumanität. Während ich aufwuchs, wurde mir dann im Unterricht beigebracht, dass es keine Rassendiskriminierung mehr gebe und dass Amerika heute ein kultureller „Schmelztiegel“ sei, wo ein jeder gleichermaßen willkommen geheißen wird. Dieser Glaube – an das Ende des Kampfes – erschien mir damals wie eine unglaubliche Befreiung. Wir mussten uns also nicht länger mit der Vergangenheit auseinandersetzen oder uns für unsere Herkunft rechtfertigen. Stattdessen konnten wir uns jetzt einfach als ein willkommen geheißener Teil dieses „kulturellen Schmelztiegels“ fühlen, in dem wir von der Vergangenheit nicht länger eingeholt werden und uns nicht länger für unsere Handlungen rechtfertigen müssen, um das intergenerationelle Trauma erzwungener oder selbstgewählter Immigration mühsam von uns fernzuhalten.
Als ich dann ein paar Jahre älter war, erkannte ich natürlich, dass der Rassismus keineswegs der Vergangenheit angehörte. Und es wurde mir auch klar, dass die Vorstellung vom Schmelztiegel weder ideal noch überhaupt realisierbar war. Und das war auch nicht einmal erstrebenswert, da die damit einhergehende Botschaft in Wirklichkeit darin bestand sich anzupassen und zu assimilieren, was soviel bedeutete, dass man für das Erreichen einer solchen Assimilation etwas von sich selbst ein für allemal aufgeben und in sich auslöschen musste. Tatsache ist jedoch, dass wir unsere Vergangenheit, unseren kulturellen Ursprung nicht einfach auslöschen können – und auch nicht unser soziales Konstrukt und unsere ethnische Herkunft. Seit langem bestehende Formen der Diskriminierung und ethnischen Voreingenommenheit waren schon viel zu oft das Motiv für schreckliche Tragödien mit tödlichem Ausgang. Es scheint so, als gäbe es heute, ein Jahr nach der Ermordung von George Floyd, eine größere Bereitschaft, über diese – unsere Gesellschaft nach wie vor bestimmende – Wirklichkeit der Rassendiskriminierung zu sprechen.
Mittlerweile weiß ich, dass Menschen, die einer ethnischen oder rassischen Minderheit angehören, generell dazu tendieren, eine innere Abwehr – anders gesagt einen „impliziten Panzer“ – mit sich herumzutragen. Hinter diesem Panzer verbirgt sich sowohl das Bedürfnis, sich vor der Kultur der Mehrheit der Bevölkerung zu schützen, als auch gleichzeitig das dringende Bedürfnis dazuzugehören. Ein schwarzer Arztkollege, der stets tadellos gekleidet zur Arbeit erscheint, bekannte sich dazu, dass er dies deswegen tue, um sich zu schützen. Sein Anzug und seine Krawatte erfüllen die Funktion, den anderen Respekt und Achtung abzuverlangen, und zudem sind sie ein Indiz für seinen beruflichen Status – und sie bilden außerdem eine Art von Schutzpanzer. Dieses aus der Not heraus geborene Handeln meines Kollegen steckte mir tatsächlich buchstäblich ein Licht auf.
Meine Abwehr schlägt zurück
Über Rassenzugehörigkeit zu sprechen kann sich sehr unangenehm anfühlen. Mir jedenfalls ist dabei immer noch irgendwie unbehaglich zumute. So fällt mir beispielsweise soeben auf, dass ich hier bereits beim vierten Abschnitt meines Aufsatzes angelangt bin und noch immer nichts über meine Herkunft verraten habe. Mein Name lässt möglicherweise darauf schließen, dass meine Familie ursprünglich aus Südasien oder dem Mittleren Osten kommt. Tatsächlich sind meine Eltern Muslime und stammen aus Südindien. Ich selbst bin in den Vereinigten Staaten geboren und hier aufgewachsen. Als Heranwachsende glaubte ich, ich würde keinen inneren Panzer mit mir herumtragen. Doch vor Kurzem begann ich dann, mich ernsthaft zu fragen: Was ist es, was mir Schutz gibt?
Mein Vater immigrierte 1970 in die USA. Er spricht fließend Englisch, aber in seiner Herkunftssprache sind die Buchstaben etwas anders. Die Buchstaben R und L können im malayalamisch akzentuierten Englisch auf ganz vielfältige Weise ausgesprochen werden, wohingegen die Buchstaben W und V sich in der Aussprache nicht voneinander unterscheiden. Als ich noch ein Kind war, merkte ich nicht, dass meine Eltern mit einem deutlich hörbaren Akzent Englisch sprachen, aber dafür merkten es die anderen. Mein Vater sagte oftmals, seine Arbeitskollegen hätten Schwierigkeiten ihn zu verstehen. Aufgrunddessen fasste mein Vater irgendwann den Entschluss, mein Bruder und ich sollten zu Hause nur Englisch sprechen, unter keinen Umständen aber das Malayalam erlernen, also die Herkunftssprache meiner Eltern. Es war ihm nämlich unglaublich wichtig, dass wir den amerikanischen Akzent perfekt beherrschen lernen sollten.
Und in der Tat: Ich spreche heute einen ausgeprägten amerikanischen Akzent (doch dafür kann ich keine der indischen Herkunftssprachen sprechen). Sind mein Akzent und meine Leichtigkeit, mich in der englischen Sprache auszudrücken, womöglich ein Hinweis darauf, was für eine Strategie ich mir im Leben angeeignet habe, um mich vor dem Nichtverstandenwerden zu schützen, womit für mich vermutlich viel mehr als nur praktische Gründe auf dem Spiel standen? Anders gesagt, man könnte durchaus darüber nachdenken, ob mein amerikanischer Akzent nicht lediglich deswegen für mich von so großer Bedeutung ist, weil ich dadurch von anderen besser verstanden werden kann, sondern vielmehr vor allem deswegen, weil er mich vor Vorurteilen und Diskriminierung schützt. Obwohl es meinen Eltern aus ihrer Sicht damals wirklich sinnvoll erschien, mich nicht ihre Sprache erlernen zu lassen, so haben sie mir dadurch dennoch für immer den lebendigen Zugang zu meinem Herkunftsland und meiner Herkunftskultur verbaut. Und so habe ich mich quasi in einer Art von Zwischenbereich eingerichtet.
Ich bin mittlerweile zu der Ansicht gelangt, dass auch der Beruf und die Ausbildung, die man wählt, die Funktion eines Panzers übernehmen können. Dass meine Eltern so hartnäckig darauf drängten, dass ich eine krisenfeste Berufslaufbahn (wie etwa Technologie) einschlage, war gewiss nicht allein des sicheren Einkommens wegen, sondern vor allem deshalb, weil sie wollten, dass mir die gleiche Anerkennung zuteil wird wie allen anderen auch. Mit anderen Worten, sie erhofften sich davon eine Möglichkeit für mich, wie die Mehrheit der Bevölkerung zu werden, gesellschaftlich anerkannt zu sein, zu überleben, und den Respekt von der Gesellschaft beanspruchen zu können. Als künstlerisch begabtes Kind, das von Hollywood träumte, ging ich meinen Eltern natürlich bisweilen mächtig auf die Nerven. Sie fürchteten, dass ich aufgrund meiner Rassenzugehörigkeit Ablehnung erfahren würde. (Und so kam es, dass ich mich schließlich für die am meisten künstlerische Profession innerhalb der Medizin entschied, d.h., ich wurde psychoanalytische Psychiaterin.)
Vor meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin gab es für mich stets nur das eine: beruflich voranzukommen. Rückblickend würde ich sagen, der unbedingte Wille vorwärtszukommen war meine Abwehrstrategie, wobei ich dann weder darüber nachzudenken vermochte, was meine persönlichen Verluste gewesen waren, noch die einschneidenden Veränderungen in meinem Leben betrauern konnte. Aber genau diese Abwehrstrategie hatte mich daran gehindert zu sehen, wer ich selbst war. Bisweilen war ich eher geneigt, mich dem amerikanischen Teil meiner Identität zuzuwenden, dann wieder eher dem indischen oder muslimischen Teil. Das war, als könnte ich immer nur eine kulturelle Identität verkörpern, ohne für die kreativen Anregungen und Impulse vonseiten der anderen Identität zusätzlich auch noch offen zu sein.
Meine psychoanalytische Ausbildung befähigte mich schließlich dazu, etwas kürzer zu treten und ein Selbstbild von mir kennenzulernen und anzunehmen, das weitaus komplexer war als dasjenige, das ich bisher gekannt hatte, dafür aber viel wahrer. Ich lernte zu akzeptieren, dass ich verschiedene Kulturen in mir trug und verkörperte und ich unterließ es fortan, Teile meiner selbst strikt von mir fernzuhalten, um mir andere umso mehr zu eigen zu machen. Aufgrund dieser inneren Integrationsleistung wurde es mir schließlich möglich, ein verlässlicheres Selbstgefühl zu entwickeln, das von unterschiedlichen kulturellen Einflüssen genährt wird. Dieses komplexe Verständnis hat wohlgemerkt so gar nichts mit der Vorstellung vom „Schmelztiegel“ zu tun, wie man es mir als Kind weiszumachen versuchte.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass es genau diese Abwehrstrategien sind, die dafür verantwortlich waren, dass ich heute ein amerikanisches Englisch spreche, die Herkunftssprache meiner Eltern nicht erlernte und beharrlich eine akademische Karriere anstrebte, weswegen ich dann tatsächlich auch einen vollkommen anderen Lebensweg eingeschlagen habe wie die Frauen vorangegangener Generationen aus meiner Herkunftsfamilie. Aber auch wenn es mir dadurch zugegebenermaßen gelungen ist, am Ende in die amerikanische Kultur ziemlich gut integriert und assimiliert zu sein, so musste ich dennoch einen Preis dafür bezahlen: Ich habe mich meiner indischen Herkunftsfamilie entfremdet. In dem Bemühen, mich in die Mehrheitskultur erfolgreich zu integrieren, konnte es nämlich nicht ausbleiben, dass ich mich von der Familienidentität meiner indischen Vorfahren immer weiter bis hin zur Unkennlichkeit entfernt habe.
(Am Rande erwähnt sei noch, dass nicht alle Generationen von Immigranten zu denselben Abwehrstrategien Zuflucht genommen haben. Die Kinder der in den 1970er Jahren nach Amerika eingewanderten Inder richten sich viel weniger an den Wertvorstellungen ihrer Eltern aus, als das dann eine Generation später der Fall ist – d.h. bei den Kindern der Einwandererkinder, wenn sie dann selbst Eltern sind.)
Eine neu erwachte Motivationskraft
Die jüngst angestoßenen psychoanalytischen Debatten auf nationaler und internationaler Ebene – die sich einerseits als problematisch und andererseits als sehr ergreifend erwiesen haben – ließen die Notwendigkeit erkennen, dass Fragen zur gegenseitigen Anerkennung und Verständigung zwischen Menschen mit unterschiedlichem kulturellen und ethnischen Hintergrund offen zur Sprache gebracht und diskutiert werden müssen. Sehr wahrscheinlich tendieren alle Menschen mehr oder weniger dazu Vorurteile zu entwickeln, egal ob sie einer Mehrheits- oder Minderheitskultur angehören. Und so erfüllt der „implizite Panzer“ insbesondere für alle Individuen sowie Gruppierungen, die einer Minoritäts- oder Subkultur angehören, offenbar eine wichtige Funktion, zumal es sich dabei um eine Strategie handelt, die deswegen entwickelt wurde, um den Minoritätenstatus besser ertragen zu können und sich zu schützen.
Häufig drücken wir uns vor Diskussionen zum Thema Rasse und Rassenzugehörigkeit. Den einen ist der Gedanke unerträglich, andere Menschen fortwährend zu verletzen, den anderen, sich ständig nur mit Vorurteilen und stereotypen Meinungen konfrontiert zu sehen. Doch einer der Gründe für diese skeptische Haltung, sich auf Diskussionen über Rasse und Rassenzugehörigkeit einzulassen, rührt daher, dass dabei oftmals unerwünschte Gefühle in uns wachgerufen werden. Eines dieser Gefühle, die dabei womöglich heraufbeschworen werden, ist die Scham, wenn wir mit einmal voller Erstaunen feststellen müssen, selbst anfällig dafür zu sein, anderen Menschen voreingenommen und diskriminierend zu begegnen – und zwar besonders dann, wenn wir plötzlich voller Entsetzen erkennen müssen, dass diese Voreingenommenheit auch noch mehr oder weniger unbemerkt unser gesamtes Verhalten bestimmt hat.
So entdeckten etwa die Autoren, die einen längeren Artikel über Rassismus herausgegeben hatten, erst nach der Veröffentlichung voller Erstaunen, dass ihnen gerade im Fall der am Artikel mitwirkenden schwarzen Autorin der missliche Fehler unterlaufen war, Name und Profession mit entsprechenden Kompetenz- und Qualitätsnachweisen versehentlich vergessen zu haben, obwohl sie diese Angaben bei sämtlichen Autoren, die zu dem Artikel einen Beitrag geleistet hatten, angeben wollten.
Dies lieferte dann wiederum den Anlass für eine Diskussion, in der eine ganze Reihe von unterschiedlichen Reaktionen und Lösungsvorschlägen verlautbart wurde. Manche der Diskussionsteilnehmer fühlten sich bei dieser Debatte sichtlich unbehaglich. Doch es gab auch solche, die dieses Versehen schlicht und einfach als unerheblich bezeichneten, da es ja schließlich unbeabsichtigt passiert sei. Aber es gab tatsächlich auch Stimmen, denen die unbewusste Natur des Vorfalls besonders zu denken gab. Welche unbewussten Komponenten hatten da hineingespielt, dass es letztlich tatsächlich zu diesem Versehen hatte kommen können? Immerhin hatte eine nicht so geringe Anzahl von Autoren Korrektur gelesen, bevor sie dann den Artikel zum Druck freigaben. Und dennoch hatte offensichtlich keiner von ihnen den Fehler bemerkt. Sollte die Autorin am Ende ihres ihr zustehenden Oualifikationsnachweises beraubt warden – und dies obendrein auch noch in einem Artikel über Rassismus? Wie geht man mit einem solchen Versäumnis am besten um und wie kann man es wiedergutmachen? Ich glaube, dass es in einem solchen Fall wichtig ist, die dafür verantwortlichen unbewussten Prozesse zu ergründen, indem wir dazu assoziieren und eingehend darüber reflektieren.
Schlussbemerkung
Die Vorstellung vom „Schmelztiegel“ ist obsolet geworden und hat mittlerweile ausgedient. Stattdessen müssen wir uns heute eingestehen, dass wir im Laufe unseres Lebens diverse Abwehrstrategien entwickeln, die dann zu einem Teil unserer Identität werden. Über diesen „impliziten Panzer“ müssen wir uns sowohl als Gesellschaft als auch als Profession klarzuwerden versuchen, um die damit einhergehenden Schwierigkeiten und Probleme explizit zu machen und offen zu diskutieren.
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.