Trotz Elend, Tod und der Aufgewühltheit des entfremdeten Herzens
gewinnen Friede und Glück die Oberhand, und die Hoffnung obsiegt.
Rabindranath Tagore, Geetabitan, 1903 [1]
Das Ende der Zivilisation: als das wird die Pandemie häufig wahrgenommen. Die Menschen fürchten sich nicht nur vor dem eigenen Tod, sondern auch vor dem Weltuntergang. Fortwährend auf physischen Abstand achten zu müssen, erzeugt zusätzlich Panik und hinterlässt in den Menschen ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Die bisher schlimmste Pandemie in der jüngeren Geschichte war die Spanische Grippe (1918-1920), der insgesamt 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Und heute, hundert Jahre später, wo wir uns der Covid-19 Pandemie stellen müssen, ist die Angst vor dem Tod für uns immer noch die selbe, und auch der Drang und das Verlangen, um jeden Preis am Leben zu bleiben, sowie das Bestreben der Menschen, das von einer Pandemie überschattete Leben verstehen zu wollen, sind gleich geblieben.
In Anbetracht dieser weltweiten Stimmungslage benötigen wir meiner Ansicht nach alle ganz dringend den Trost und Hoffnung spendenden Zuspruch zweier weltweit einflussreicher Persönlichkeiten aus zwei unterschiedlichen Ländern und Erdteilen. Ich spreche von Sigmund Freud (1856-1939) und dem indischen Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861-1941). Beide erlebten im Laufe ihrer Lebenszeit fünf Pandemien – Pest, Cholera, Pocken, Grippe und Spanische Grippe. Beide Männer hatten infolge einer Pandemie den Tod eines ihrer Kinder zu verkraften. Dieser Verlust hatte einen enorm großen Einfluss auf ihre gesamte Welt- und Lebensanschauung.
Am 25. Januar 1920 verlor Freud sein fünftes Kind, Sophie, an die Spanische Grippe, die damals in Europa wütete. Zwei Tage später schrieb er in einem Brief an Oskar Pfister:
Am selben Nachmittag erhielten wir die Nachricht, dass unsere liebe Sophie von einer Grippe-Lungenentzündung hinweggerafft worden ist, so weggerafft aus blühender Gesundheit, aus voller Lebenstätigkeit als tüchtige Mutter und zärtliche Frau, in vier oder fünf Tagen, als wäre sie nie dagewesen. Wir waren schon seit Tagen besorgt um sie, hatten aber doch Hoffnung; aus der Ferne ist das Urteilen so schwer. Und diese Ferne muss Ferne bleiben, wir konnten nicht, wie wir wollten, sofort nach der ersten alarmierenden Nachricht reisen, es ging kein Zug, auch kein Kinderzug. Die unverhüllte Brutalität der Zeit drückt auf uns … Ich arbeite, soviel ich kann, und bin dankbar für die Ablenkung. Der Verlust des Kindes scheint eine schwere, narzisstische Kränkung; was Trauer ist, wird wohl erst noch nachkommen … [2]
Im Jahr 1907 verlor Tagore seinen jüngsten Sohn Shamindranath an die in Indien wütende Cholera. Über diesen Verlust schrieb Tagore:
Als sein letzter Moment nahe war, saß ich allein im Dunkeln in einem angrenzenden Zimmer und betete inständig für sein Hinübergehen in die nächste Stufe der Existenz, dass es in vollkommenem Frieden und vollkommener Seelenruhe vonstatten gehen möge. An einem bestimmten Punkt schienen meine Gedanken in einem Himmel zu schweben, wo es weder Dunkelheit noch Licht gab, lediglich eine tiefe, tiefe Ruhe, ein endloses Meer von Bewusstsein ohne die geringste Welle und ohne das geringste Murmeln …. Ich fühlte mich wie ein Vater, der seinen Sohn über das Meer geschickt hatte und jetzt erleichtert erfuhr, dass er gut und sicher an seinem Bestimmungsort angekommen war. Ich fühlte augenblicklich, dass die physische Nähe unserer Liebsten nicht das letzte Mittel war, um sie zu schützen. [3]
Diese Trauererfahrung ist in sämtlichen literarischen Werken Tagores spürbar. Die Freud-Forscher und Freud-Experten sind sich mehr oder weniger darin einig, dass die Erfahrung der Trauer in Freuds Vorstellungen vom Todestrieb eingeflossen ist [4]. Dadurch, dass Freud einen Lebens- und Todestrieb postulierte, brachte er mehr oder weniger implizit oder explizit zum Ausdruck, dass seiner Konzeption vom Trieb an sich eine Dualität innewohnt. Selbst wenn Freud von zwei unterschiedlichen Trieben spricht, so sind sie doch beide so miteinender verwoben, dass sie letztlich nicht anders als in der Betrachtung ihrer Wechselbeziehung zueinander Sinn und Bedeutung ergeben. Er behauptete, dass dem Lebenstrieb die Funktion zukommt, das Leben zu erhalten. Und indem also Freud dem Eros die wichtige Aufgabe der Selbsterhaltung zuweist, weist er ihm gleichzeitig auch die Aufgabe zu, ‘immer größere Einheiten herzustellen’. Entgegen der dem Lebenstrieb innewohnenden Tendenz zur ‘Bindung’ ist das Ziel des Todestriebs, ‘Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören’. Freud gelangte schließlich zu der Auffassung, dass ‘das Ziel alles Lebens … der Tod’ ist, eine Behauptung, worin sich das seit dem Beginn menschlichen Denkens und Bewusstseins bestehende universelle menschliche Streben widerspiegelt, nicht nur dem Leben, sondern auch dem Tod einen Sinn zu geben und somit den Platz des Menschen innerhalb der Natur zu bestimmen. [5]
Am anderen Ende der Welt gelangte Tagore zu der Auffassung, dass ‘der Tod eine Bedeutung habe, weil das Leben existiert’. Und so wurde es für Tagore zur Lebensaufgabe, im ‘Kommen und Gehen des Lebens’ einen Sinn und eine Bedeutung zu erkennen. Er entdeckte somit für sich den Sinn des Todes darin, ihn innerlich in der eigenen Vorstellung annehmen und akzeptieren zu lernen. Tagore verwandelte die ‘Thanatophilie’ über den Umweg seines literarischen Schaffens in ein dramatisches und zum Feiern Anlass gebendes Ereignis [6]. Und ganz in diesem Sinne schrieb er:
Wer sagt, dass ich nicht länger da sein werde in deinen Morgen
Das selbe Ich wird bei Dir sein, scherzend und Dich erfreuend,
Du wirst mich mit einem neuen Namen rufen und mich mit Ungestüm umarmen
Und ich werde für immer bei Dir sein;
Somit brauchst Du Dich nicht an mich erinnern
Und nach mir Ausschau halten in entfernten Sternen
Tagore, Probasi, Geetabitan, 1916 [7]
Heute, wo wir allenthalben vom Tod umgeben sind und verzweifelt nach einem Licht- und Hoffnungschimmer in der Dunkelheit Ausschau halten, machen wir die Erfahrung, dass von den Werken dieser beiden Denker eine wohltuende und tröstliche Wirkung ausgeht. Wir spüren buchstäblich eine unmittelbar heilsame Wirkung auf uns und unsere Seele, wenn wir Tagore sagen hören: ‘Der Tod löscht das Licht nicht aus, er macht nur die Lampe aus, weil die Morgendämmerung eingesetzt hat’ [8]. Oder auch, wenn Freud sagt: ‘Die Jahre des Kampfes werden Ihnen einmal in der Erinnerung als die schönsten erscheinen’[9].
Zu guter Letzt gehen Leben und Tod, Tod und Leben, untrennbar ineinander über, nämlich in dem Moment, wo
Leben und Tod zusammen tanzen.
Tagore, Arupratan, Geetabitan, 1910 [10]
[1] www.geetabitan.com
[2] Heinrich Meng and Ernst L. Freud, trans. Eric Mosbacher (1963).
Psychoanalysis and Faith: The Letters of Sigmund Freud and Oskar Pfister. New York: Basic Books. [Sigmund Freud / Oskar Pfister. Briefe 1909-1939. Hrsg. von Ernst L. Freud und Heinrich Meng. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1963.]
[3] Manabi Katoch, 7 May 2018, 'Death, Grief, Wanderlust and Love : How Rabindranath Became "Gurudev Tagore"'
https://www.thebetterindia.com/140394/gurudev-rabindranath-tagore-my-reminiscences/
[4] Simitis, Ilse. (1993).
Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt a. M. : S. Fischer.
[5] Freud, S. (1940a [1938]). Abriss der Psychoanalyse. G.W. Bd. 17, S. 63-138.
[6] Kakar Sudhir (2014).
Death and Dying Boundaries of Consciousness. New Delhi: Penguin Books.
[7] www.geetabitan.com
[8] Rabindranath Tagore (n.d.). Quotes. BrainyQuote.com. Retrieved June 7, 2020 from BrainyQuote.com Web site:
https://www.brainyquote.com/quotes/rabindranath_tagore_386459
[9] Sigmund Freud / C. G. Jung. Briefwechsel. Hrsg. von William Mc Guire und Wolfgang Sauerländer. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974.
[10] www.geetabitan.com
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.