Psychoanalyse und Genealogie des erotischen Körpers

Prof. Christophe Dejours
 

Der Körper in der Psychoanalyse ist zunächst ein erotischer Körper. Er ist nicht von Geburt an vorhanden, er wird konstruiert. Störungen seiner Entwicklung stehen im Zusammenhang mit Psychopathologien

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Freud und der Körper
Die meisten Autoren stimmen darin überein, Triebe und Triebschicksale (1915) als jenen Text zu betrachten, der sich am eingehendsten mit der Frage des Körpers beschäftigt. Und dies ist berechtigt, vorausgesetzt, der Trieb erscheint tatsächlich ‘als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist’ [1]. Der Trieb ist seelischer Repräsentant dessen, was aus dem Körperinneren kommt, aber seine Quelle, das heißt also ‘jene[r] somatische Vorgang in einem Organ oder Körperteil, dessen Reiz im Seelenleben durch den Trieb repräsentiert ist’ [2], gehört nicht der Psychologie an: ‘Das Studium der Triebquellen gehört der Psychologie nicht mehr an; […] Die genauere Erkenntnis der Triebquellen ist für die Zwecke der psychologischen Forschung nicht durchwegs erforderlich’[3].

Aus diesem Text geht hervor, dass es aus Freuds Sicht keinen Platz gibt für eine Metapsychologie des Körpers.
Andere Autoren, die den Status des Körpers nicht außer Acht lassen wollen, beziehen sich zur Rechtfertigung ihrer Position auf eine andere Schrift Freuds, Das Ich und das Es (1923). Tatsächlich steht in diesem Text der berühmte Satz: ‘Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche’ [4]. Was bedeutet ‘Projektion einer Oberfläche’? Wahrscheinlich meint Freud hier die Projektion als einen Prozess, der die bildhafte Vorstellung entstehen lässt, entsprechend der Projektion auf eine Leinwand. In einer von Freud autorisierten Anmerkung zur Standard Edition wird dieser Gedanke präzisiert: Das Ich ist in letzter Instanz von den körperlichen Empfindungen abgeleitet, vor allem von denen, die von der Oberfläche des Körpers herrühren. Es kann also als eine seelische Projektion der Oberfläche des Körpers betrachtet werden neben der Tatsache […], dass es die Oberfläche des seelischen Apparates ist’ [5].

Von dieser Anmerkung auszugehen, um eine Theorie des Körpers in der Psychoanalyse aufzubauen – so wie Didier Anzieu es getan hat, der diese Anmerkung bei der Begründung seiner Theorie des Haut-Ichs verwendete – bedeutet, von Freud abzuweichen. Tatsächlich interessiert sich Freud in genanntem Text für die Absonderung von Ich und Es, und wenn er Groddeck zitiert, so nicht, um dessen Vorstellungen vom Körper aufzunehmen, ganz im Gegenteil, er weist diese zurück, weil er den Monismus dieses Autors nicht akzeptiert. Es ist die einzige Passage dieses Texts, in der auf den Körper als solchen Bezug genommen wird, aber der Aufsatz trägt nichts bei zu einer Theorie des Körpers.
 
Der Körper und die nicht-neurotischen Pathologien
Wenn Groddeck, Reich und später Schilder, Dolto, Pankow und Anzieu Körper-Theorien vorschlugen, so wichen sie dabei ganz sicher von Freuds Vorgehensweise ab. Und wenn sie sich dies erlauben, dann deshalb, weil sie sich für nicht-neurotische Pathologien interessieren - bei Dolto und Pankow ist dies die Psychose, bei Anzieu Borderline-Zustände, bei Reich sind es Psychosomatik und Charakteranalyse. Nebenbei sei angemerkt, dass auch die Psychosomatiker der Pariser Schule keine psychoanalytische Theorie des Körpers entwickelt haben. Für sie wie für Freud ist der Körper der psychomotorische oder viszerale Körper, und als solcher bleibt er ein durch und durch biologischer Körper. Wie Michel de M’Uzan [6] sagt, ist das somatische Symptom stupide, und wenn sich der Körper äußert, so geschieht das unter dem ökonomischen Regime der Sklaven der Quantität, das heißt, es geschieht in einem Register, das eben nicht psychisch ist.

Was nun aber die meisten der anderen Autoren interessiert, ist zunächst der Affekt, in dem Sinne, dass Zustände von Dissoziation gerade durch die Art und Weise charakterisiert werden, in der sich der Körper dem Erleben im Affektmodus entzieht, um Raum für die Leere zu lassen, für die Anhedonie. Ebenso ist im Psychosomatischen die Alexithymie nichts anderes als eine grundlegende Unmöglichkeit, Affekte zu empfinden und zu erkennen. Und auch die aktuellen Pathologien der Selbstverstümmelungen während der Pubertät stehen in Beziehung zu einer fundamentalen Störung körperlichen Erlebens von Affekten.[7] [8]
 
Das Konzept der libidinalen Subversion des physiologischen Körpers
Um eine Theorie der Bildung des erotischen Körpers zu skizzieren, kann man sich auf eine Vorgehensweise stützen, die Freud in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) als ‘Anlehnung’ des Sexualtriebs an eine der lebenswichtigen Körperfunktionen beschrieben hat. Es handelt sich um einen subtilen Prozess: das Kind bemüht    sich, seinen Eltern zu zeigen, dass es sich beispielsweise seines Mundes nicht allein als Organ zur Nahrungsaufnahme bedient. Das Kind bedient sich seiner auch zum Lutschen, zum Küssen, zum Beißen, und später wird es sich seiner auch bei den sexuellen Spielen bedienen. Auf diese Weise bekräftigt das Subjekt eine gewisse Unabhängigkeit im Gebrauch seines Organs — seines Mundes — in Hinblick auf dessen ursprüngliche Bestimmung. Das Subjekt bekräftigt, dass es sich seines Mundes nicht nur deshalb bedient, weil es Hunger hat, sondern manchmal auch zu seinem Vergnügen. Zugleich entdeckt es, dass es nicht Sklave seiner Instinkte und Bedürfnisse ist, dass es nicht nur ein tierhafter Organismus ist, sondern dass es Subjekt seines Begehrens ist. Man sieht: die Anlehnung verändert Bestehendes, wirkt wie eine Subversion. Indem der Mund dieser Subversion als Dreh- und Angelpunkt dient, kann er als erogene Zone erkannt werden. Gewiss, hierzu ist ein Organ berufen und keine Funktion. Um sich mehr oder minder von der Diktatur einer physiologischen Funktion zu befreien, ist das Organ ein notwendiger Vermittler: es ist das Organ, das die Subversion, die Veränderung der bestehenden Funktion durch den Trieb ermöglicht.

Freud hat die aufeinanderfolgenden Stadien [9] des Aufbaus der Sexualität beschrieben. Nach und nach bieten sich verschiedene Körperteile dem Trieb als Anlehnfläche an und geben sich als erogene Zonen zu erkennen. Diese Zonen werden in immer höherem Maße ihren natürlichen Herren, den physiologischen Funktionen, entrissen, um allmählich zugunsten der Konstruktion dessen, was wir subjektiven Körper oder erotischen Körper nennen, subversiv verändert zu werden. Durch den Aufbau der psychischen Sexualität vermag sich das Subjekt teilweise von seinen physiologischen Funktionen, von seinen automatischen Verhaltensweisen, ja sogar von seinen biologischen Rhythmen zu befreien. So geschieht es, dass die menschliche Sexualität in gewissem Maße die endokrin-metabolischen Rhythmen zu überwinden vermag. Bei der Frau folgt die Sexualität beispielsweise nicht mehr dem Menstruationszyklus und hört mit der Menopause nicht auf. Dank der Anlehnung errichtet das Register des Wünschens sein Primat über das Register des Müssens.

Hier sollte auch präzisiert werden, dass die subversive Eroberung des physiologischen Körpers durch den erotischen Körper immer einen unvollendeten Charakter hat. Die psychische Sexualität und die erotische Ökonomie laufen häufig Gefahr, sich ‘wegzulehnen’ und eine gegen den Wandel gerichtete Bewegung hervorzubringen, von welcher jene schweren Dekompensationen herrühren, die uns dazu zwingen, über eine Theorie des Körpers in der Psychoanalyse nachzudenken.

Aber auch das, was sich in den Beziehungen zwischen dem Kind und seinem erwachsenen Gegenüber abspielt, hat eine wesentliche Wirkung. Die Entwicklung des erotischen Körpers ist in dieser Perspektive das Ergebnis eines Dialogs, der sich um den Körper des Kindes und dessen Funktionen dreht und dessen Basis die von der erwachsenen Person geleistete körperliche Versorgung des Kindes ist.

Die Genealogie des subjektiven Körpers präzisiert sich. Der ganze Prozess entwickelt sich in der Beziehung zum Anderen. Aber die Psychoanalyse gibt zu bedenken, dass diese Beziehung eine ungleiche ist [10] [11]. Und der wesentliche Ort der Begegnung zwischen Kind und erwachsener Person ist zunächst der Körper: Körperpflege, körperliche Spiele. 

Auch wenn das wesentliche Instrument dieser Beziehung zwischen erwachsener Person und Kind zunächst, in der objektiven Welt, die Qualität der Fürsorge ist, aktivieren diese Beziehungen doch durch ihre Bewegung selbst das Auftauchen anderer wesentlicher Strebungen: Lust, Verlangen, Erregung,… Allgemeiner gesagt aktivieren sie die erotische Dimension, die untrennbar ist von körperlichen Spielen. Der zweite Körper, der erotische Körper wird aus dem ersten geboren, aus dem physiologischen Körper. Zwischen beiden stehen die Berührungen des kindlichen Körpers durch die erwachsene Person. 
 
Die aus dem erogenen Körper ausgeschlossenen Zonen und die Agenesie [12] der Triebe
Wenn wir versuchen wollen, die Verwundbarkeit von Patienten mit schweren Dekompensationen– Wahn, Borderline-Depressionen und Schübe bei fortschreitenden somatischen Krankheiten – und deren Beziehungen zur Sexualität zu verstehen, müssen wir uns das Scheitern oder die ‘Unfälle’ dieser Subversion näher ansehen, fehlgeschlagene Situationen, in denen es Körperkontakt zwischen Kind und erwachsener Person gibt.

Die Art und Weise, in der die erwachsene Person die Aufforderungen des Kindes, mit dem Körper zu spielen, begleitet, hängt von ihrer eigenen Spielfähigkeit ab. Diese Spiele lösen bei der erwachsenen Person mannigfaltige Reaktionen aus, die eng mit ihren eigenen Phantasmen und mit der Freiheit und Leichtigkeit verbunden sind, über die sie ihrem Körper gegenüber verfügt, je nach ihrer eigenen psychischen Funktionsweise. Manche dieser Spiele, die vom Kind ausgelöst werden, rufen bei Erwachsenen bisweilen Ablehnung, Ekel und Hass auf den Körper des Kindes hervor. Dann kann es geschehen, dass die erwachsene Person gewaltsam reagiert und wütend auf den Körper des Kindes einschlägt, was beim Kind eine Erregung hervorruft, die all seine Bindungsmöglichkeiten übersteigt und es in eine psychisch traumatisierende Situation versetzt, in eine Situation, die es ihm unmöglich macht, das, was sich in seinem Körper abspielt, zu denken. 

Die Folgen dieser ungebundenen Erregung sind von zweierlei Art:

- Im Körper selbst wird die libidinale Subversion gehemmt, was in Form einer teilweisen Agenesie des erogenen Körpers und der Entstehung kalter Zonen oder Register kristallisiert. Diese Hypothese, dass im Zuge der Entwicklung kalte, jeder erogenen Möglichkeit beraubte Zonen kristallisieren, führt zur Annahme, dass die Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenem in gewisser Weise Sedimente bilden, sich materialisieren, ‘anatomisiert werden’. So könnte die Geschichte der libidinalen Subversion in der Perspektive der Geographie des erogenen Körpers entziffert werden. 

- Wenn das Individuum beim Körperkontakt in der Liebesbegegnung aufgerufen ist, mit diesem unzugänglichen erotischen Repertoire zu spielen, besteht die Gefahr, dass das, was diese Exklusion hinterlassen hat, hervortritt: eine elektive Verwundbarkeit für die Auslösung einer somatischen oder wahnhaften Dekompensation.

Verbot und Spaltung 
Mit dem Begriff ‘Funktionsverbot’ lässt sich außerhalb des Erotischen das Scheitern der libidinalen Subversion einer biologischen Funktion bezeichnen. Klinisch lässt sich dieses Scheitern durch ‘Faulheiten’ des Körpers ausmachen oder durch Ungeschicklichkeiten, Starrheiten, Unausdrückbarkeiten, Kälteempfindungen, Steifheiten des Körpers im zwischenmenschlichen Umgang oder auch in den Äußerungsformen von Verführung und Zorn, Aggressivität und Zärtlichkeit, Steifheit in der Motorik und im Timbre der Stimme, in der Bestürzung und im Lachen, etc. 
 
Anders ausgedrückt: dort, wo die libidinale Subversion gescheitert ist, schreibt sich eine Spur des ‘Verbotenen’ ins Unbewusste des Kindes ein. ‘Verboten’ bedeutet, dass sich ein Unbewusstes gebildet hat, das zuvor nicht im Denken gewesen ist und das daher ein dem Denken entzogenes Unbewusstes ist, das durch den Begriff ‘amentales Unbewusstes’ [13] bezeichnet wird, dem Laplanche die Bezeichnung ‘eingeschlossenes Unbewusstes’ [14] vorzieht. Wenn das amentale Unbewusste eine hervorragende Stellung in der Topik einnimmt, gibt es eine größere Verwundbarkeit in den psychotischen und psychosomatischen Pathologien. Aber bei allen Menschen gibt es einen Anteil von amentalem Unbewussten, sodass kein menschliches Wesen völlig geschützt ist vor einer schweren Dekompensation.

In dieser Sichtweise gelangt man also zu einer Topik, in der zwei Arten von Unbewusstem nebeneinander gestellt werden, die sich in ihrer Genese und in ihrer Funktionsweise unterscheiden. Zwischen ihnen gibt es eine Spaltung, wie es Ferenczi in dem oben zitierten Text bereits beschrieben hat. 
 
Schlussfolgerung
Anders ausgedrückt: wenn man versucht, diese Diskussion in der Perspektive einer metapsychologischen Theoriebildung zu rekapitulieren, wird man berücksichtigen, dass ausgehend von den Psychopathologien der schweren Affektionen die Genealogie eines zweiten Körpers – des erotischen Körpers – durchlaufen werden muss, welcher sich durch eine subversive Veränderung der physiologischen Ordnung zugunsten der sexuell-erotischen Ordnung vom biologischen Körper herleitet. 

Und wenn man umgekehrt vorgeht und von der Klinik ausgeht, wäre es bei Patienten, die unter schweren psychosomatischen und psychiatrischen Dekompensationen leiden, möglich, die Praxis in Hinblick auf eine Analyse der Störungen der libidinalen Subversion zu erweitern, welche diese Patienten daran hindern, die Mächte ihres Körpers zu bewohnen und zu genießen, die Lebendigkeit des eigenen Körpers zu empfinden.
 

[1]Freud, S (1915). Triebe und Triebschicksale. In: Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, Bd. 3 (1915), S. 84-100; GW, Bd. 10, S. 210-232. Hier S. 214.
[2] Ibid., S. 215.
[3] ibid. S. 216.
[4] Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. Wien, Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verrrlag. In: GW, Bd. 13, S. 237-289. Hier S. 253.
[5] Zitiert nach J. Laplanche & J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main, 1967; hier S. 198f.
[6] de M’Uzan, M. (1984).  Les esclaves de la quantité’ , La bouche de l’inconscient. Paris: Gallimard, 155-168
[7] Le Breton, D. (2004). „Le recours au corps en situation de souffrance chez les jeunes générations’, in J. AÏN (sous la direction de) Ressources : entre corps et psychè. Toulouse: Eres éditions, S. 99-115.
[8] Catz, H. (2017). ‘Tatuajes como Marcas Simbolizantes’, Revista de Psicoanálisis-Asociación Psicoanalítica Argentina.
[9] Es geht jedoch nicht darum, Freuds Konzeption der aufeinander folgenden Stadien zu unterschreiben. Was in diesem Aufsatz beabsichtigt ist, ist kein Aufeinander-Stapeln der Stadien gemäß einer evolutionistischen Schichtung, die zu irgendeiner genitalen und heterosexuellen Reife führen würde. Eher geht es um ein räumliches Voranschreiten, welches zur Bildung einer ‘Geografie’ führt, nämlich jener des erogenen Körpers.
[10] Ferenczi, S. (1932). « Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind ». Französische Übersetzung:« Confusion de langue entre les adultes et l’enfant », Oeuvres complètes de Ferenczi, Tome IV, Payot.
[11] Laplanche, J. (1987). Nouveaux fondements pour la psychanalyse. Paris: PUF, S 89-148.
[12] Mit dem Begriff ‘Agenesie’ wird in Medizin und Veterinärmedizin das Fehlen eines Organs aufgrund (genetisch bedingter) Nicht-Anlage bezeichnet. (Anm. D. Übers.)
[13] Dejours, C. (2001). Le corps d’abord , Paris: Editions Payot.
[14] Laplanche, J (2007). Sexual : la sexualité élargie au sens freudien. Paris: PUF, S. 275-292.
 
Aus dem Französischen übersetzt von Susanne Buchner-Sabathy, Wien
 

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