Mein Großvater mütterlicherseits war ein italienischer Einwanderer, der nach den Katastrophen des 1. Weltkriegs mit seinen Eltern und Geschwistern nach Lateinamerika kam. Mit Hilfe einer Ordensgemeinschaft konnte seine Familie, gemeinsam mit anderen Gruppen von Verwandten und Freunden, ein Schiff besteigen und nach Amerika fahren, wo sie versuchen wollten, für ihre Nachkommen ein besseres Leben aufzubauen. Jedenfalls reisten sie nicht allein. Viele Italiener hatten beschlossen, gemeinsam mit ihnen aufzubrechen, darunter vor allem Eltern mit kleinen Kindern, die hofften, hier Land zu finden, das sie bebauen könnten, eine Gemeinschaft von Menschen, in der sie sich niederlassen und mit der sie auf amerikanischem Boden eine Form des Zusammenlebens entwickeln könnten. Das ursprüngliche Ziel, Amerika, wurde dann ganz speziell Kolumbien: Die kolumbianische Karibikküste war – und ist noch immer – wichtig für den Handel mit verschiedenen Teilen der Welt. Auch kamen hier viele Einwanderer an und wegen der günstigen Lage am Meer und wegen der fruchtbaren Böden, die Viehzucht und Landwirtschaft erlaubten, wählten viele Menschen diese Region zu ihrer neuen Heimat. Der Vater meiner Mutter entstammte einer Bauernfamilie: mit der Zeit übten er, seine Geschwister, Verwandten und Reisegefährten verschiedene Berufe aus: sie bestellten das Land, sie betrieben Viehzucht, sie trieben Handel; sie übersiedelten ins kolumbianische Binnenland, sie ließen sich in der Andenregion nieder und widmeten sich dort dem Ackerbau. Sie kamen ins Herz Kolumbiens, wo es kein Meer gibt und von wo man nicht schnell wegfahren kann, und dies bedeutete sicherlich, dass sie dieses Land als jenen Ort erwählten, an dem sie bleiben wollten. In den Anden kam meine Mutter zur Welt, die durch die Zufälle des Schicksals – wobei wir wissen, dass Psychoanalytiker sehr wenig von Zufällen halten – zurückkehrte, um an der karibischen Küste zu leben. Sie beschloss nämlich, sich mit einem Seemann – meinem Vater – zu vermählen.
Die Schilderungen meines Großvaters ließen mich verstehen, dass Migration eng mit seinem Leben verbunden war, dass aber auch Angst und das Streben nach Überleben den Anstoß dazu gaben. Auszuwandern bedeutete, sich von dem Ort loszureißen, der als Heimat empfunden wurde. Und um dies auf möglichst erträgliche Weise zu tun, war es nötig, sich gemeinsam aufzumachen, mit Verwandten und Freunden, hin zu einem Ort, an dem sich jene, die auf Land angewiesen waren, sicher wissen könnten, zu einem Ort, an dem man einen Neuanfang machen könnte. Eine Erfahrung des Fremdseins gibt es immer dort, wo Lebens- und Todestrieb sich im Wechselspiel gegenseitig anstoßen, damit in jedem Fall der Eros die Oberhand gewinnt, ein Eros, der niemals vergisst, dass die Kraft seiner Strebung einen Teil ihrer Macht aus Entwurzelung und Verzicht zieht.
Die weiten Reisen meines Vaters waren für mich eine Welt der Abenteuer: seine Fahrten auf hoher See waren verbunden mit einer Welt, die mich faszinierte, einer Welt, die mir erzählte vom Zusammenleben der Mannschaft an Bord eines Schiffes, von der Brüderlichkeit zwischen den Seeleuten, die nichts zu tun hat mit Banden der Blutsverwandtschaft. Keiner war mit dem anderen vertraut, doch waren sie gemeinsam unterwegs, und so stand jeder für den anderen ein. Über eins waren sie sich immer im Klaren: sobald sie das Schiff endgültig verlassen würden, sollte ihr Leben dort weitergehen, wo sie geboren worden waren, fern vom Meer und auf festem Boden. Zum Ursprung zurückkehren, zu dem Land, das man am besten kennt, dem sichersten Ort der Welt. Immer ging es darum, zu versuchen, dorthin zurückzukehren, wo man sein möchte: eine Reise anzutreten, in dem Wissen, dass man von vornherein das Rückfahrt-Ticket besitzt. Jetzt freilich mit zwei Familien: einerseits mit der, die durch Bande des Blutes verbunden war und andererseits mit der Familie der Gefährten auf hoher See, der Familie der anderen Seeleute.
Wenn man migriert, wenn man sich von einem Land in ein anderes begibt oder von einer Region in die andere – wobei das Ziel ausreichend anders oder ausreichend weit weg sein muss –, wenn man sich dort für längere Zeit niederlässt, so dass sich am neuen Ort Alltagsaktivitäten abspielen, so ist das nach León und Rebeca Grinberg (1984) eine Erfahrung, die die Berücksichtigung vielfältiger Elemente voraussetzt. Darunter auch die Überlegung, ob es sich um eine freiwillige oder eine erzwungene Erfahrung handelt. Die Autoren überlegen, wie diese beiden Möglichkeiten ganz getrennt und isoliert voneinander gehalten werden können. Ich für meinen Teil glaube, dass beides in seinem Wesen mehr oder minder miteinander verbunden ist. Grundlegend für das Verständnis der Auswirkungen der Migration ist es, zu wissen, ob es möglich ist, an den Ort zurückzukehren, den man verlassen hat, oder nicht.
Lateinamerika war ein Kontinent der Einwanderung: ein Psychoanalytiker aus Uruguay, Marcelo Viñar, merkte einmal bei einer Konferenz an, dass viele Lateinamerikaner in Wirklichkeit von den Schiffen stammen, die sie hierher gebracht hatten. Ich würde noch hinzufügen: Wir kommen aus der Begegnung, den Streitigkeiten, den Schlachten, den Spannungen und letztlich den Versuchen des Zusammenlebens zwischen dem ankommenden Subjekt und dem schon hier seienden Subjekt. Der Schmelztiegel, in dem die verschiedenen Traditionen aufeinander trafen, prägte das Geburtsmal der Lateinamerikaner.
Schon die Geschichte hat uns wiederholt gezeigt, dass kulturelle Reinheit nicht existiert, und dass es, seit es Menschen gibt, auch Dialog und Austausch gibt (Vega, 2002).
Andererseits und zugleich erleben wir auf Gebieten wie Kolumbien auch die interne Vertreibung vieler Menschen. Wegen der noch immer stattfindenden Kriege sehen sich viele Menschen veranlasst, ihr Zuhause zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Die Mehrzahl der erzwungenen internen Wanderbewegungen erfolgt in Gruppen. Ganze Familien müssen ihr Land verlassen und in die kolumbianischen Großstädte fliehen, wo sie sich in den Elendsvierteln am Rand der Städte niederlassen.
Erneut stoßen wir hier auf eine intensive und erstaunliche Erfahrung: Wie die Migration es ermöglichte, Raum für den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen fruchtbar zu machen, so gab es auch Wanderbewegungen aus Furcht, dann nämlich, wenn Flucht zur einzigen Möglichkeit wurde, die Geschichte der eigenen Entwurzelung morgen noch erzählen zu können. Hier taucht, wie Freud uns nahelegt, ein beunruhigendes Element auf: Migration ist uns einerseits vertraut und formt uns seit den Anfängen unserer Geschichte; zugleich aber ist sie uns fremd und erschreckt uns. Wenn wir – wieder einmal – einen Neuankömmling treffen: so grüßen wir ihn in Angst, wir machen ihm Angst und wir berauben ihn seines Landes.
Welche Elemente sind Teil unserer psychischen Geschichte in Hinblick auf die Migranten? Schon Rene Kaës (1983) wies darauf hin, dass das Subjekt des Unbewussten das Subjekt des Erbes ist, das Subjekt der Gruppe – wenn wir das Problem des Gegensatzes zwischen Individuum und Gruppe überwinden. Was ist nun die Erbschaft, die wir aus der Ankunft des Anderen, des Fremden, des Immigranten, des Vertriebenen erhalten? Verstehen wir, dass wir schon immer aus diesem Anderen gemacht sind?
Ich möchte nun zwei Phänomene besprechen, die uns in Zusammenhang mit Migration aus der lateinamerikanischen Geschichte und aus der Geschichte der Psychoanalyse bekannt sind. Das erste Phänomen war, dass viele unserer Kollegen wegen der Diktaturen, denen sie sich in ihren Ländern widersetzten, an unterschiedlichen Orten Europas und Nordamerikas im Exil leben mussten. Edmundo Gómez-Mango (2011), der über dieses Thema nachdachte, ruft uns in Erinnerung, dass das Exil niemals endet und dass es zum Teil ein kategorischer Imperativ ist – sowohl für das Individuum wie auch für die Gruppe –, die Erinnerung an diese Bruchstücke unserer Geschichte zu wecken, zu analysieren und zu bewahren, damit nachkommende Generationen sie als Teil ihrer Herkunft anerkennen und so den Sinn von Solidarität und Gastfreundschaft für ihre Mit-Migranten wie für Neuankömmlinge erfassen können.
Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura schrieb die Dialoge für den Film “Regreso a Ítaca” ["Retour á Ithaque"/"Rückkehr nach Ithaka"] (2015) und erzählt uns darin, wie sich in Kuba eine Gruppe von Freunden trifft, um die Rückkehr von Amadeo zu feiern, der vor mehr als 15 Jahren mit seiner Theatergruppe nach Spanien ging und seither nicht zurückgekehrt war. Wir erfahren, dass er aus Angst fortgeblieben war. Mit seiner Abreise bewahrte er Geheimnisse eben dieser Freunde. Erführen Vertreter des Regimes von deren Plänen, so fielen die Freunde in Ungnade. Er wollte sie nicht verraten. Nun kehrt er, in größerer Sicherheit, zurück, fühlt sich als freier Mann, und kündigt den verblüfften Freunden an, dass er zu bleiben gedenkt. Er kehrt nicht ins gelobte Land zurück, und auch nicht ins Damals, nein; und das weiß er auch. Doch kehrt er in ein Land zurück, in dem er sich besser wiedererkennt. Und seine Freunde werden hier sein, um auf ihn achtzugeben.
Das andere Phänomen wurde von Freud in "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" (1939) beschrieben, in jenem seiner Werke, in dem er seine Ideen zum Ursprung der Figur des Moses äußert: zu diesem fremden Subjekt, auf dem die Identität eines Volkes gründet, dem es nicht durch Blutsverwandtschaft verbunden ist, dem es aber als Gründerfigur angehört. Ein weiteres Mal sind wir hier mit dem Anderen konfrontiert, das uns zugleich vertraut und notwendig, aber auch unvertraut und fremd ist.
Über Freuds Moses gelangt Edward W. Said (2003) in seinem Vortrag zum Thema "Freud und die Nicht-Europäer" zu zwei Schlussfolgerungen, die ich diesen Überlegungen hinzufügen möchte: Vor allem stellt der Begründer der Psychoanalyse klar, dass die Identität eines Subjekts oder eines Kollektivs sich nicht auf seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit einer bestimmten politischen oder religiösen Ausrichtung reduziert. Zweitens, dass die gemeinsame Identität durchaus nicht homogen ist und auch nicht eine einzige, einzigartige und inhärente, ein großes integriertes Ganzes. Eher haben wir es mit fragmentierten Identitäten zu tun, meint Jaqueline Rose (2003) in ihrer Erwiderung auf Saids Feststellungen, mit fragmentierten Identitäten, in denen das immigrierende Andere uns konstituiert und sich uns sogar assimiliert, indem letztlich Bruchstücke anderen Ursprungs in der Fremdheit des Anderen Teil von uns selbst zu werden beginnen,.
Ich frage mich also: Ist es gerade dieser beunruhigende Charakter des Immigranten, der uns zurückweichen lässt? Ängstigt es uns, dass wir nichts über die Person zu wissen glauben, die da kommt? Ein brasilianischer Künstler, Paulo Nazareth, entschloss sich zu einer Fußwanderung durch Lateinamerika, vom Süden bis zur nördlichen Grenze. Überall sprach er mit den Menschen, die er traf. Manchmal lebte er für einige Zeit mit einigen von ihnen zusammen, und dann setzte er seinen Weg wieder fort. Seine Idee war es, sich "anstecken" zu lassen von den Gewohnheiten und Gebräuchen dieser Menschen; er wollte, dass sein Körper Teil der Gebiete würde, die er durchwanderte.
Eine der Überlegungen, die sich für ihn aus dieser Erfahrung ergab, ist die folgende:
"Mein Konzept von Heimat dehnt sich Tag für Tag aus (…). Geboren in Brasilien, bin ich Lateinamerikaner, und als Lateinamerikaner bin ich auch Mexikaner (…). Ich bin Teil jedes Landes, durch das mich meine Füße tragen (…). Diese Länder lassen sich nicht mit einer imaginären Linie namens Grenze voneinander trennen (…). Vielleicht werden sie deshalb im Norden die Mauer errichten: ein Versuch, zu verhindern, dass Mexiko weiterhin Mexiko innerhalb der Vereinigten Staaten ist (Paulo Nazareth, 2012).
Vielleicht müssten wir wieder diese ganz offensichtliche Unkenntnis denken, die wir angesichts des Immigranten empfinden: Dann ist plötzlich das, was wir nicht begreifen wollen, der Umstand, dass wir seine Existenz in ein Bruchstück umwandeln, abgespalten von unserem Seelenleben, ein Bruchstück, das wir uns nicht einverleiben wollen und das uns fremd wurde.
Dann und mit geistigem Ehrgeiz können wir, wie uns Cavafis sagt, weiterhin hoffen, dass der Weg nach Ithaka weit sein möge und dass wir am Ende verstehen, was die Ithakas für jeden einzelnen von uns bedeuten.
Literaturhinweise
Freud, S (1919) Das Unheimliche. GW XII, 229-268.
Freud, S (1939 [1934-38]) Der Mann Moses und die monotheistische Religion. GW XVI, 103-246.
Gómez-Mango, E (2011) Trazas. In: Crónicas de la amistad y el exilio. Montevideo: Ediciones de la Banda Oriental. s.51-54.
Grinberg, L; Grinberg, R(1984) Psicoanálisis de la migración y el exilio. Madrid: Alianza editorial.
René Kaës (1983) Introducción: El sujeto de la herencia. In: Trasmisión de la vida psíquica entre generaciones. París: Dunod. S. 13-29.
Nazareth, P (2012) Paulo Nazareth. Arte Contemporanea/Ltda. Eds. Diegues, I; Sardenberg,R. Río de Janeiro: Cobogó.
Padura, L; Cantent, L (2015) Regreso a Ítaca. Colombia: Tusquets editores.
Rose, J (2003) Respuesta a Edward Said. In: Freud y los no europeos. Barcelona: Global Rhythm.
Said, E.W (2003) Freud y los no europeos. Barcelona: Global Rhythm.
Vega, N (2002) Intersección compleja. In: Inmigrantes. Revista de la Galería Mundo. No.3, Marzo 7 del 2002.