Eine präsente Leere voller Abwesenheit

Prof. Dr. phil. Yolanda Gampel
 

In Zeiten von Covid19 verlassen wir unsere Comfort-Zone und treffen unsere Patienten ‘face to face’. Wir entdecken an einander das, was wir zuvor nicht sehen konnten, das Fremde.

0
Comments
1463
Read

Das Corona-Virus ist nichts als eine Leere, ohne Geruch, ohne Farbe, ohne Klang, ebenso wie das, was ich in Zusammenhang mit soziopolitischer Gewalt, Shoa, Kriegen, Folterungen, Grausamkeit beschrieben habe. Mit der Metapher der ‘radioaktiven Übertragung’ bezeichne ich jene Wirkungen der äußeren Welt, die in unseren seelischen Apparat eindringen, ohne dass wir irgendeine Kontrolle über deren Eintritt, Einpflanzung und Auswirkungen haben. Geruchlos und farblos präsentieren sie sich uns wie eine körperliche Krankheit, eine emotionale Verwirrung, ein entfesselter Trieb, es ist schwierig, Einfluss auf eine Welt zu haben, die nicht beeinflussbar erscheint. Seit Ende der 1990er Jahre sprechen manche Sozialwissenschaftler von einer Realität, die von ‘VUCA’ geprägt ist: einem Kürzel für ‘Volatilidad, Incertidumbre, Complejidad, Ambigüedad’ (Flüchtigkeit, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität). 

Jetzt stehen wir vor einem Geschehen, das dieses ganze Kürzel in sich trägt, einem Geschehen, das uns das vergegenwärtigte und uns mit dem konfrontierte, was wir nicht sehen wollten.

Sich in der Welt zu bewegen erfordert eine besondere Geschicklichkeit, um beständig mit dem umzugehen, was eine Reaktion auf VUCA mit sich bringt. Die ökologische Krise und jetzt die Pandemie als ein Ereignis zu denken heißt, die Grenzen der theoretischen und praktischen wissenschaftlichen Betrachtungsweise aufzuzeigen und auch die Grenzen der Sichtweise jener Psychoanalytiker, die glauben, mit bloßer Vernunft auf alles antworten zu können. 

Wir könnten ein Ereignis als einen Raum charakterisieren, der in seiner Singularität eine Situation spezifiziert und offen ist für unendliche Möglichkeiten. 

Die Epidemie erfordert eine neue Form von Solidarität im gesellschaftlichen Kontext. Die Familie im häuslichen Raum zu organisieren, mit unterschiedlichen Zeitabläufen und einer in Tagen der Produktion und der Karrieren ungekannten Intimität und Kontinuität, erfordert einen ‘Rückzug’ und unterteilt den Körper der Gesellschaft in kleine Einheiten. Aber wir entdecken die neuen, vielbesuchten Chatrooms der sozialen Netzwerke, die Whatsapp-Gruppen, den Unterricht und die Konferenzen über zoom. 

Corona zwang uns dazu, die Bedingungen der klinischen Arbeit zu ändern durch eine virtuelle Technologie der Klinik, wir entdecken ein bisher verborgenes Potential in all dem.

Was wird das hauptsächliche Ziel der Psychoanalyse sein und was ist jetzt und in Zukunft die Essenz des Analytiker-Seins? 

Ich glaube, das Analytiker-Sein wurzelt in einem Ethos, in einer zugleich immanenten und transzendenten Präsenz, da ist ein Raum und ein Körper, der atmet, um denken zu lernen, und dem Anderen ermöglicht, denken zu lernen. Die Fähigkeit, die eigenen Gedanken zu denken, entsteht aus einer Schicht der Persönlichkeitsstruktur, die tiefer ist als jener Bereich, aus dem bewusste Entscheidung entspringt. 

In unserer Arbeit mit der Psyche sprechen wir von der Beziehung zwischen zweien oder vielen, von der Beziehung zu inneren Objekten, von der therapeutischen Beziehung. Sprechen wir von Begegnung? Wahrscheinlich für das Erstgespräch, und dann gibt es in der Beziehung Übertragung und Gegenübertragung, Abwehr und Widerstand, und schon weiß das ein jeder vom anderen ohne Überraschungen.

Unsere Leben bestehen aus Begegnungen. Nun gibt es die große Begegnung mit dem Virtuellen, der Überraschung und der Angst, die diese bei vielen von uns – Psychoanalytikern und Patienten – hervorruft.

Was geschähe, wenn wir jede Sitzung als neue Begegnung und als Entdeckung des Anderen denken würden, was mittels der Nähe oder einer kleinen Verschiebung möglich ist, ohne dass sich der eine vom anderen überflutet fühlt. 

Sich zu treffen ist ein Anstoß, birgt die Gefahr, sich in dem entdeckt zu fühlen, was jeder in sich verschließt. Wie können wir diesen Anstoß aushalten, wie können wir die Spannung beherrschen, die das, was wir verschließen, verursacht, die Spannung des Sich-Öffnens, die Spannung, die dadurch verursacht wird, dass ich in Gegenwart des Anderen mich öffne, aus mir herausgehe, um den anderen zu treffen, den Anderen, der sich von mir unterscheidet, die Spannung, die dadurch verursacht wird, dass wir beide aus unserer Bequemlichkeit und aus unserem umzirkelten Inneren hinausgehen? In diesen Corona-Zeiten verlassen wir den Bereich des Vertrauten und treffen uns mit unserem Patienten auf dem Bildschirm, in einer Face-to-face-Begegnung, die uns entdecken lässt, was wir im Anderen nicht sehen, und ich selbst bin der Andere, der, den mein Patient in mir entdecken wird – zum Beispiel all meine Falten – und ich sehe den Anderen an und sehe zugleich mich an und der Andere taucht in seiner Alterität auf, aber ich auch. Wenn wir bereit sind zu lernen. 

Und wenn wir jedes Mal den Patienten als einen Anderen sehen und hören könnten, ohne ihn in eine Kategorie einzuordnen, ohne ihn anzugleichen, ohne ihm das zu rauben, was er besitzt, wenn wir ihn jedes Mal entdecken könnten.

Sich in jeder Sitzung mit und in dieser Bresche treffen, die sich in einer Bindung ergeben kann und das Neue auftauchen lassen, die Existenz, die nicht bewiesen werden kann. 

Die Frage der Analyse in der Perspektive von Bions Paradigma ist das Wachsen und der Gebrauch der schöpferischen Fähigkeiten. Nicht nur das Unbewusste bewusst machen oder die verschiedenen Positionen im Laufe des Lebens immer wieder neu einordnen, oder sich in jedem Augenblick von neuem der imaginären und symbolischen Realität zu stellen. Es wäre nötig, dem Subjekt – Individuum, Familie oder Paar – zu erleichtern, dass es sich uns nähert, sein Wachsen und seine Reifung zu fördern, dabei alles abzutrennen, was seine Entwicklung fesselt, und den Prozess zu begleiten, ohne ihn aufzugeben. Was zählt, ist die Effizienz der Immanenz, die die Effizienz des Sich-an-die-Prozesse-Anpassens ist, nicht jene des Sie-Überschreitens, um ein Ziel aufzudrängen. Indem der Weise sich auf keine Regel verlässt, sagte Konfuzius, ist er immer vollkommen verfügbar für das, was jede Situation erfordert.

Es gibt Geräusche, Farben, Gerüche, Emotionen, die in diesem jähen Wechsel des therapeutischen Kontextes nicht völlig aktuell gemacht wurden, was eine Anhänglichkeit an eine emotionale Erfahrung auftauchen lässt, die nicht ausgedrückt wird und im Inneren bleibt. Und ich beobachte, dass der neue Rahmen, der durch die Umstände geschaffen wurde, Emotionen auftauchen ließ, die nicht völlig aktualisiert werden konnten. Ich möchte hinzufügen, dass die durch die ‘Liebes’ fähigkeit und durch die völlig unglaubliche Situation gestützte Bindung die Eindrücke läutert. Ich denke, es ist wie in der Poesie, die vorgibt, das Unsichtbare innerhalb des Sichtbaren zu fassen, die Leere durch die Bilder zu evozieren. In der therapeutischen Begegnung entsteht all dies ohne Rhetorik, mit Einfachheit im Ausdruck.

Wir sehen in uns und in unseren Patienten stille Umwandlungen, beginnend mit dem erzwungenen Wechsel des Modus des Zusammen- und Getrenntseins, eine subtile Veränderung, beinah nicht wahrnehmbar, von dem, wovon diese Umwandlungen das Resultat sind. Ein umfangreicher, unsichtbarer Prozess taucht auf und wird sichtbar. 
 
Wir leben in einer Event-Gesellschaft, in der wir ständig das Neuartige erhoffen, das, was die Routine durchbricht. Es ist das Event-Spektakel der Massen-Medien, der Mode, des Tourismus, in dem wir immer das erhoffen, was sich unterscheidet. Die neue Situation ließ uns zum Gewöhnlichen zurückkehren, dazu, mit unseren eigenen Gedanken zu denken, stellte uns in die günstigen oder ungünstigen Bedingungen, die die Gefahr und die Gelegenheit sind, die wir auf den Weg zu bringen wissen müssen.

Eine klinische Begegnung
Die Familie kehrte in den Corona-Zeiten aus einem anderen Land zurück und musste sich zwei Wochen lang in Quarantäne begeben. Die Eltern bitten um ein Gespräch, damit ich ihnen bei einem Angstzustand des Kindes helfe, der sich in einem manischen Tun, Lesen, Sprechen äußert. Es gab vor einem Jahr eine therapeutische Behandlung von 5 Sitzungen mit diesem Kind. Der achtjährige M. ist ein unruhiges Kind, verwöhnt, altklug.

Als hätte es keine Trennung gegeben, beginnt er mit Höchstgeschwindigkeit zu sprechen, sprudelt all sein wissenschaftliches Wissen über die Pandemie hervor, ohne Atem zu holen; die Atmung, die im Aus- und Einatmen besteht, wird von seiner Angst getilgt. 

Ich frage ihn, ob er mir eine Minute geben könne – ein Verweis auf Football. Er sieht mich an, gibt mir die Erlaubnis.

‘Du hast begonnen, mir alles zu sagen, was du bereits über das Virus erfahren hast. Ich langweile mich, und ich schlage dir ein Spiel vor. Spielen, ja, wie wir es in unseren Treffen vor deiner Reise getan haben.’

‘Aber es ist ein Vorschlag’, sagt er, ‘und wenn ich mich langweile, probieren wir etwas anderes.’ 

Ich schlage ihm vor, dass wir beide uns vorstellen, wir hielten in der einen Hand eine Rose und in der anderen eine Tasse, und wir würden den Duft der Rose riechen und einatmen. Er unterbricht mich, er nehme keinen Duft an der Rose wahr. Ich antworte, als ich ein Kind gewesen sei, hätten die Rosen einen Duft gehabt, jetzt aber nicht mehr, wegen der Luftverschmutzung (um irgendetwas Wissenschaftliches zu sagen).

‘Ah’, sagt er, ‘das ist wahr’.

‘Also stellst du ihn dir vor und ich werde mich an ihn erinnern.’

Wir atmen den Rosenduft ein und atmen ihn dann in die Tasse aus. Es bildet sich ein Raum zum Atmen, eine Bresche, ich verzaubere ihn und wir fahren für eine Weile damit fort, er beklagt sich darüber, dass wir aufhören, und im letzten Augenblick sagt er:

‘Nächstes Mal erklärst du mir, auf welche Theorie du dich stützt.’

Die unkontrollierbare Leere, hervorgebracht durch die Angst vor Corona, hat keine Theorie, und dies ist schrecklich für diesen Jungen, der jeden Raum von Frustration und Schmerz mit Kenntnissen füllt.