Amerikanische Sklavenbesitzer: Grausamkeit und Verleugnung

Dr. Volney P. Gay
 

Um die Lust an der Zerstörung des Sündenbocks zu rechtfertigen, imaginieren wir gegen uns, gegen unsere Angehörigen und gegen unsere Nation gerichtete Gewaltszenen.

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Psychoanalytiker bemühen sich darum, die inneren Erfahrungen ihrer Patienten zu verstehen, und zwar vorrangig durch die Sprache - die narrative Beschreibung der Träume, die freien Assoziationen, das Geben und Nehmen im analytischen Dialog. Hauptsächlicher Gegenstand unseres Interesses – Hoffnungen, Wünsche, Ängste – ist die dem Unbewussten entspringende dynamische Bewegung von Triebkräften, i.e. non-verbale Bewusstseinsanteile. Zuzeiten lenken die Worte des Analytikers – zum richtigen Zeitpunkt gegebene Interpretationen – die Aufmerksamkeit des Patienten auf eben diese Triebdynamik und bieten dem Patienten dadurch Entlastung und Erleichterung. Andererseits gibt es bisweilen auch Situationen, wo die gegebenen Interpretationen eine Flut von sarkastischen Bemerkungen, Witzen und argumentativen Auseinandersetzungen evozieren, wobei die dem Unbewussten entspringende Triebdynamik im Dunkeln belassen wird. In der weiter unten folgenden Diskussion möchte ich dieses Phänomen an zwei Beispielen verdeutlichen: zum einen an einer klinischen Vignette, zum anderen an einem Beispiel aus der US-amerikanischen Rechtsprechung, wo es um die Frage geht, wie mit versklavten Menschen grundsätzlich umzugehen ist.
 
Während meines Universitätsstudiums las ich Freud, woraufhin ich mir gelobte, Psychoanalytiker zu werden. Als Kind der späten 1960er Jahre in den USA erachtete ich den Primat-Anspruch der Sexualität für richtig und „gesund“, um es in der damals gebräuchlichen Sprache auszudrücken. Aggressionen (Wut, Angriff, „Destrudo“) erschienen mir hingegen beklagenswert und misslich und sollten durch Einsicht und stetigen Fortschritt überwunden werden.
 
Rückblickend sehe ich ein, dass manche meiner klinischen Irrtümer und Fehler von der Annahme herrührten, dass Aggression stets das Resultat von Angst, fehlender Übereinstimmung oder ähnlichem ist. Im Rahmen des klinischen Settings gehe ich zunächst einmal davon aus, dass die Wut des Patienten – oder meine Wut – das Resultat von einem Selbst-Objekt Defizit sind, ein Problem, das man in Angriff nehmen und lösen kann. Dies setzt voraus, dass es eine Abfolge von kausalen Zusammenhängen gibt, was es meiner Ansicht nach zu hinterfragen lohnt.
 
Historiker, die sich mit dem Holocaust und mit anderen durch Menschen verursachten blutigen Gräueltaten eingehend beschäftigen, suchen nach gesellschaftlichen und ökonomischen Erklärungen für ein Verhalten, das so irrational ist, dass es jenseits menschlicher Vorstellungskraft zu liegen scheint – etwa so, wie auch wir Psychoanalytiker nach den zugrundeliegenden Beweggründen für die vonseiten unserer Patienten gegen uns gerichteten Wutausbrüche und Attacken suchen. Allerdings ist diese Ursachenforschung zum Scheitern verurteilt, wenn den betreffenden Individuen ihr aggressives, dominierendes und attackierendes Verhalten ein übermäßiges Vergnügen und intensives Lustgefühl verschafft, und zwar scheinbar unabhängig von ihrer ganz persönlichen Lebensgeschichte. Natürlich haben solche leicht in Wut geratenden Personen nach dem aggressiven Wutausbruch dann häufig Geschichten parat, mit denen sie glauben, ihre blinde Zerstörungswut im Nachhinein rechtfertigen zu können. Nun bin ich der Auffassung, dass es sich bei solchen der Rechtfertigung dienenden Narrativen um eine Art von Après-Coup handelt, da sie immer erst nach der Abfuhr von triebgesteuerter Aggression entstehen.    
 
Dieser defensiven Irreführung liegt ein sich in vier Schritten vollziehender sequentieller Prozess zugrunde:

(1) Wir erleben intensive Gefühle von Scham, Demütigung und Neid: Wir fühlen uns davon erniedrigt und verletzt.
(2) Diese entwertenden, schwer erträglichen Gefühle evozieren das unabweisliche Verlangen, sich ihrer zu entledigen, um das Selbst und die Gruppe von solchen erbärmlichen Gefühlszuständen reinzuwaschen.
(3) Der Sündenbock bietet sich dafür als die geeignete, unsere innere Erregung anfachende Zielscheibe geradezu an.[1] 
(4) Um unsere Erregung zu rechtfertigen und die Lust an der Zerstörung des Sündenbocks so richtig genießen zu können, stellen wir uns Gewaltszenen äußerster Brutalität vor, die gegen uns und gegen unsere Angehörigen gerichtet sind (oder auch gegen unsere Nation oder Religion etc.). Blutige und „gerechtfertigte Rache“ stillt unseren unbändigen Hunger nach Aggressionsabfuhr und bringt unmittelbare Erleichterung.
 
„Ihr Gesicht bei einem Frontalzusammenstoß bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert“
In den späten 2000er Jahren erhielt ich von einem früheren Patienten eine E-Mail. Er machte mir Vorwürfe, für die aktuellen Probleme seiner Familie verantwortlich zu sein. Ich versuchte, mich über diese E-Mail hinwegzusetzen und sie auszublenden, aber nichtsdestotrotz ging sie mir nach. Kurze Zeit später war ich Leiter einer Tagung, auf der psychiatrische Fälle vorgestellt und diskutiert wurden. Und so ergab es sich fast wie von alleine, dass ich eine bestimmte Begebenheit aus der Analyse mit meinem früheren Patienten schilderte. Ich ließ es komisch, ja beinahe witzig erscheinen – jedenfalls lachten die anwesenden Tagungsteilnehmer. Am darauffolgenden Tag bereitete mir meine „satirische“ Kurzschilderung dann doch ziemliches Kopfzerbrechen. Warum war ich nur so sauer auf diesen Patienten? Und warum versuchte ich mit aller Gewalt, diese Vignette so witzig und komisch erscheinen zu lassen?
 
Mein Patient, ein Geschäftsmann mittleren Alters, war aufgrund seines analytischen Blicks und messerscharfen Verstandes in der Lage, andere Menschen mit Worten von beißend-satirischem Witz zu „töten“. Auf diese Weise gelang es ihm, seinen Freunden und manchmal auch mir ein Lachen zu entlocken. Wenn mein Patient seinen Scharfsinn (Aggression) gegen andere richtete, war ich wohl etwas besorgt darüber, aber nicht wirklich schockiert oder erschüttert. Doch eines Tages löste sich meine Illusion über ihn mit einem Schlag in Luft auf. Mein Patient hatte einen Zeitungsartikel mit Foto über meine älteste Tochter gelesen. Sie war im selben Alter wie seine Tochter, die auf ein anderes Gymnasium ging. Mein Patient sagte, meine Tochter sähe genauso aus wie ich. Dann strahlte er übers ganze Gesicht und fragte mich, wie ich mich fühlen würde, wenn ich ihr Gesicht bei einem Frontalzusammenstoß bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert sähe.
 
Dies war die Fallvignette, die ich den Tagungsteilnehmern präsentierte. Sie lachten kurz auf und fragten mich dann, wie ich damit umgegangen sei und darauf reagiert hätte. Ich redete oder vielmehr murmelte undeutlich etwas vor mich hin über die Erkundung der negativen Übertragung. Worüber ich nicht sprechen konnte – weil ich ihn nämlich selbst nicht in mir hatte zulassen können – war der Schock angesichts dieses Schlages ins Gesicht vonseiten meines Patienten. Die Leser dieser Fallvignette haben gewiss eine Idee für eine hilfreichere Intervention. Der Attacke meines Patienten direkt ausgesetzt hatte ich damals keine.
 
Was war mit meinen psychoanalytischen Fähigkeiten geschehen? Mir fallen vier Fehler ein. Erstens hatte ich mich in die früheren Opfer seiner Attacken nicht hineinversetzt und eingefühlt. Seine aufgekratzt vergnügten Schilderungen seiner cleveren Verunglimpfungen von anderen hätten es verdient, eingehender untersucht zu werden. Zweitens verwechselte ich klinische Empathie mit Passivität. Klinische Empathie erfordert von uns, die gesamte Bandbreite der Wünsche des Patienten wahrzunehmen und dann zu benennen, und dazu gehören wohlgemerkt auch die ihm Lust und Erregung verschaffenden Wünsche, andere zu bestrafen oder manchmal sogar zu vernichten und auszulöschen. Drittens verleugnete ich den mir von ihm zugefügten Schmerz – für einen kurzen Moment lang hatte ich mir tatsächlich das bei einem Autounfall zerschmetterte Gesicht meiner Tochter vorgestellt. Als Reaktion darauf rationalisierte ich den erlittenen Schock und versuchte, ihn in mir aufzuheben (contain) und irgendwie wegzustecken. Viertens versäumte ich es, seine in ihm Lust und Erregung hervorrufende Aggression in seinem Tagtraum anzusprechen und zu bezeichnen. Aufgrund dieses Versäumnisses konnte ich ihm auch nicht dabei helfen, seine rasende Wut zu erkennen ob der Tatsache, dass meine und nicht vielmehr seine Tochter in einem Zeitungsartikel lobend hervorgehoben wurde. Das hätte ihm vermutlich geholfen, mir zu vertrauen und sich selbst mehr in seine schadenfroh hämische Feindseligkeit einzufühlen und damit auseinanderzusetzen; und ich hätte ihm dadurch vielleicht auch bei der Bewältigung seiner kriselnden Ehe helfen können.
 
Ich ließ mir wiederholt meine beiden Analysen, die ich einst gemacht hatte, durch den Kopf gehen. Hatten meine beiden Analytiker damals ungewollt mit mir kolludiert und deswegen kolludierte auch ich später mit meinem Patienten? Aber ich konnte mein eigenes Versagen nicht auf deren vermeintliche Fehler zurückführen. Später kam mir mein älterer Bruder in den Sinn, der während seiner gesamten Schulzeit mit einer nicht-diagnostizierten Legasthenie zu kämpfen hatte. Ich selbst ging gern zur Schule und war nicht selten der Liebling meiner Lehrer. Natürlich entging meinem Bruder meine Überlegenheit nicht (und auch der damit einhergehende Stolz), was ihn wiederum beschämt und wütend machte. Und so bestand er auf seinem Recht, mir, wann immer es ihm behagte, „eine reinzuhauen“, mit Ausnahme meines Gesichtes, da dies ansonsten meiner Mutter sofort aufgefallen wäre.  
 
Es gefiel mir überhaupt nicht, ständig und wann immer es ihm passte, einen Faustschlag von ihm hinnehmen zu müssen. Ich fühlte mich beschämt und gedemütigt von seiner Demütigung und Beschämung. Ich sah, wie er vor Angst zitterte, wenn er in die Schule ging. Nun verglichen meine Eltern meine Schulnoten zwar nicht mit den seinen, aber dennoch war es so, dass meine Mutter mit mir gedanklich und geistig anspruchsvolle Gespräche zu führen pflegte und mit ihm eben nicht. Während mein Bruder von seinen Klassenkameraden in sadistischer Weise gehänselt und verspottet wurde, hatte ich selbst eine Menge Freunde. In der weiterführenden Schule wurden diese tagtäglichen Kämpfe meines Bruders dann immer schlimmer. Er ging nicht aus und hatte keine Verabredungen, und er schrammte oftmals nur knapp daran vorbei, von der Schule zu fliegen. Die meiste Zeit über war er traurig und wütend, wohingegen ich es nicht war. Ich liebte meinen Bruder und gleichzeitig hatte ich Angst vor ihm. Ich hatte damals keine Möglichkeit, ihm etwas über diese komplexe und vielschichtige Wahrheit mitzuteilen. Und infolgedessen sagte ich einfach nichts.
  
Um nun wieder auf meinen scharfsinnigen und gewitzten Patienten zurückzukommen, so sagte ich auch zu meinem Patienten nichts, als er eine unbändige Lust dabei verspürte, mich dazu zu bringen, mir das zerschmetterte Gesicht meiner Tochter vorzustellen. In seinem Tagtraum verlor sie, so könnte man sagen, ihr Gesicht, genauso wie er sein Gesicht verloren hatte – in unserem Übertragungsdrama – in dem Moment, wo er realisierte, dass nicht seine, sondern meine Tochter in einem Zeitungsartikel gefeiert wurde. Mir stand tatsächlich nichts zur Verfügung, es ihm so zu sagen, dass ich es ihm dabei nicht unter die Nase gerieben oder gar Salz in die Wunde gestreut hätte. Auf ähnliche Weise hatte ich seinerzeit meinem Bruder, wann immer ich mit ihm zusammen war, meinen schulischen Erfolg vorenthalten. (Stattdessen freundete ich mich regelmäßig mit Bruderfiguren an, wobei ich mir dann in der Rolle gefiel, sie bei ihrem Studium oder schulischen Lernen zu unterstützen.) Dies wurde dann zu einem für mich charakteristischen Neurotizismus: zu wetteifern, aber nicht allzu sehr; Aggression abzufangen und sie dann mit Humor und Witz umzulenken; anders gesagt, auf sozusagen höheren Pfaden zu wandeln.
 
„Die Macht des Herren muss absolut sein, um die Unterwerfung des Sklaven vollkommen zu machen“ 
Die Überlegungen zu meinem Versagen, der Aggression meines Patienten angemessen gegenüberzutreten, hat mir geholfen, auch über die amerikanischen Sklavenbesitzer nachzudenken. Kurz gesagt, ich behaupte, dass auch sie in einem Netz von projektiven Prozessen gefangen waren. Da sie sich primitiver, frühester Abwehrstrategien bedienten, klammerten sie sich an die aus Besitz und Eigentum erlangten finanziellen und narzisstischen Belohnungen, während sie dabei gleichzeitig ihre Bewusstseinsspaltung verdeckten und bagatellisierten. Während sie sich einerseits dazu bekannten, amerikanische freiheitsliebende Christen zu sein, legten sie andererseits Millionen von Menschen und deren Kinder in Ketten. Dass manche Sklavenbesitzer ihre Sklaven als zur „Familie“ gehörig bezeichneten, macht ihre Taten beinahe (aber wiederum nicht gänzlich) unvorstellbar.
 
Um sich vor überwältigenden Schuldgefühlen zu schützen, stellten sich die Sklavenhalter entsetzliche, gegen ihre eigenen Familien gerichtete Gewaltszenen vor, für den Fall, dass sie die Sklaverei abschaffen würden. Die Sklaverei musste also aufrechterhalten werden, da ansonsten etwas weitaus Schlimmeres passiert wäre: die Vernichtung von weißen Familien durch mörderische Schwarze. Ganz ähnlich resultierte auch bei meinem Patienten seine unbändige Wut auf mich und meine Tochter ursächlich aus seinem eigenen Gefühl von Demütigung und Entwertung, weil nicht seine Tochter gefeiert wurde, wie es seiner Überzeugung nach nur recht und billig gewesen wäre. Ich und meine Tochter waren seiner inneren Logik zufolge die Verursacher von seiner Demütigung und seinem entsetzlichen Leid. Infolgedessen musste sie vernichtet werden, und ich musste in meiner Vorstellung ihre Zerstörung miterleben, was mich dazu zwingen würde, meinerseits seine Demütigung zu erfahren.
 
Die meisten Sklavenbesitzer waren keine Soziopathen. Einigen von ihnen könnte man durchaus eine gewisse Genialität zusprechen. Alle zogen Nutzen und Vergnügen aus ihren Besitz- und Eigentumsverhältnissen, auch wenn sie das dabei erfahrene lustvolle Vergnügen vehement bestritten. Um ihre nichtchristliche und nichtamerikanische Haltung, die sich hinter ihrer Handlungsweise verbarg, zu rechtfertigen, projizierten sie ihren eigenen Selbsthass und ihre Monstrosität in die von ihnen versklavten Menschen hinein. Als Auffangbehälter für diese Projektionen wurden diejenigen versklavten und unterjochten Personen, die sich der Degradierung widersetzten, zu einer Gefahr, d.h. sie wurden zu bedrohlichen, beinahe dämonischen Akteuren, die der absoluten Kontrolle und gnadenlosen Beherrschung bedurften, was von systematischer Erniedrigung bis hin zu Mord reichte.
 
In diesem Szenario erhoben die Sklavenbesitzer für sich den Anspruch auf das Recht uneingeschränkter Gewaltausübung und Aggression gegenüber den Sklaven, um sich auf diese Weise zu schützen. Wir können diese Erklärung auch in der juristischen Argumentation eines gebildeten Richters[2] finden. Im Jahr 1829 wurde John Mann wegen Körperverletzung und brutaler Misshandlung von einer Sklavin namens Lydia angeklagt und für schuldig befunden. Mann hatte Lydia von Elisabeth Jones für ein Jahr gemietet.[3]
 
Während dieser einjährigen Mietdauer passierte es einmal, dass Lydia John Mann beleidigte. Er maßregelte und beschimpfte sie und Lydia lief davon, „woraufhin der Angeklagte an sie appellierte stehen zu bleiben. Als sie seiner Aufforderung nicht Folge leistete, schoß er auf Lydia und verwundete sie.“[4]
 
Im ersten Rechtsprechungsverfahren wurde Mann für schuldig befunden, und zwar mit der Begründung, dass er nicht der Besitzer der Sklavin sei. In dem erneut aufgenommenen Berufungsverfahren konzentrierte sich der zuständige Richter Thomas Carter Ruffin aus North Carolina auf die Frage, ob es auf der Grundlage des Rechtssystems überhaupt zulässig ist, dass irgendein Sklavenbesitzer „strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden darf für einen tätlichen Angriff auf irgendeinen Sklaven in seinem Besitz“. Nun war die Frage, ob North Carolina John Mann, dem Mieter der Sklavin, dieselben Rechte zubilligte wie Elizabeth Jones, der rechtmäßigen Eigentümerin. Ruffin plädierte dafür. Das führte zu dem rechtskräftigen Gerichtsentscheid, dass jeder Sklavenbesitzer, somit auch Mann, das Recht hat, jeder in Sklaverei gehaltenen Person Schmerz und Qualen zuzufügen.
 
Manche Verfechter der Sklaverei argumentierten, dass Sklaven wie Kinder seien, die Disziplinierung erfordern und von denen folglich Gehorsam erwartet wird. Nun ist es aber ebenso absurd zu sagen, dass Eltern ihre Kinder vorsätzlich und absichtlich verletzen – oder töten – dürfen, wie es absurd ist, den Sklavenbesitzern uneingeschränkte Gewaltausübung gegen die in ihrem Besitz befindlichen Sklaven zuzubilligen. Ruffins Gegenargument war: „Die beiden Fälle sind nicht vergleichbar. Sie stehen in krassem Widerspruch zueinander und sind von einer unüberwindbaren Kluft getrennt. - Der Unterschied ist derselbe, welcher zwischen Freiheit und Sklaverei existiert – ein größerer Unterschied ist nicht denkbar.“ Ziel von Sklaverei ist es, Zwang auszuüben, einzuschüchtern, sowie den Sklaven den Ertrag ihrer Arbeit und ihre eigene Einfallskraft auf Dauer zu nehmen.
 
Um den Gehorsam sicherzustellen, erforderte diese Denudation, dass die Herren zu allen denkbaren und möglichen Formen des Zwanges und der Gewalt greifen durften. Wie Richter Ruffin erklärte: „Die Macht des Herren muss absolut sein, um die Unterwerfung des Sklaven vollkommen zu machen.“ Ruffin deduzierte daraus die unausweichliche Konsequenz von Sklaverei: „Diese Disziplinierung gehört unverbrüchlich zum Zustand der Sklaverei. Sie können beide nicht voneinander getrennt werden, ohne dass dadurch gleichzeitig die Rechte des Herren außer Kraft gesetzt werden und der Sklave von seiner Unterwerfung entbunden wird.“
 
Ruffin, der selbst ein Großsklavenhalter war, räumte ein, dass die eine oder andere gegenüber den Sklaven vonseiten ihres Herren verübte Tat schlecht unterrichtete und wenig sachkundige Richter dazu verleiten könnte, einen Sklavenbesitzer der übertriebenen Maßnahmen zu bezichtigen und für unverhältnismäßiges Handeln anzuklagen. Indes steht die Logik der Sklaverei in krassem Widerspruch zu den gewöhnlichen Ansichten und Empfindungen. Gemäß der North Carolina Gesetzgebung ist ein Richter uneingeschränkt zum Schutz der Institution verpflichtet. Ruffin plädierte somit dafür, dass vor Gericht nur die Gesetze sprechen, weswegen er sagte, man dürfe nicht „zulassen, dass das Recht des Herren in den Gerichtshöfen zur Diskussion und in Frage gestellt wird. Um ein Sklave zu bleiben, muss der Sklave mit allen Mitteln dazu gebracht werden zu begreifen, dass gegen die Entscheidung seines Herren kein Einspruch zulässig ist; und dass die Macht seines Besitzers über ihn keinesfalls auf einer Selbstermächtigung beruht, sondern ihm durch die Gesetze der Menschen, wenn nicht gar die Gesetze Gottes übertragen wurde.“   
 
Der paranoiden Logik liegt die Überzeugung zugrunde, dass wir vom Bösen, von welchem eine unheimliche Macht ausgeht, bedroht werden. Dagegen müssen wir mit äußerster Gewalt vorgehen, um die davon ausgehende Bedrohung zu bekämpfen. (Dementsprechend beschwor auch mein Patient seiner inneren Logik entsprechende imaginäre Mächte herauf, um meine Tochter zu vernichten und mich niederzuschmettern.) Um es in den Worten von Ruffin zu sagen, müssen Sklaven bis in die Knochen spüren, dass Widerstand zweck- und hoffnungslos ist: Die Macht der Sklavenbesitzer ist ihnen durch die Gesetze der Menschen verliehen, und möglicherweise sogar durch das Gesetz Gottes. Ruffin wies die Rufe nach Gleichberechtigung vehement zurück. Er erachtete dieses Ansinnen als eine „fanatische Philanthropie, die bestrebt ist, ein allgemein anerkanntes Übel durch Maßnahmen zu überwinden, die ein noch weitaus schlimmeres und katastrophaleres Übel über uns hereinbrechen lassen als das ursprüngliche Übel“ [5].
 
Mit diesem „schlimmen und katastrophalen“ Übel waren Sklavenaufstände gemeint, bei denen ganze Horden von nicht zu stoppenden Kriminellen über die Besitzer und ihre Kinder herfallen und sie vernichten. Diese schreckenerregende Prophezeiung erwächst aus der felsenfesten Überzeugung, dass es keine alternative Möglichkeit gibt – wie etwa eine sukzessive Emanzipierung, Entschädigung für die Besitzer, stufenweise Reparationen. Der Sklavenbesitzer Thomas Jefferson sagte zu den anderen Sklavenbesitzern: „Wir packen den Wolf bei den Ohren.“ Anders ausgedrückt, entweder beherrschen die Besitzer den Wolf oder aber der Wolf verschlingt sie [6].
 
Aus diesem Grund muss jedwede mögliche Kraftanstrengung aufgewandt werden, und zwar so lange wie nötig und ohne absehbares Ende. Diese Überzeugung manifestierte sich mit unablässiger Hartnäckigkeit in der Propaganda der Südstaaten sowie der Propaganda in den Vereinigten Staaten nach Ende des Sezessionskrieges.
 
[1] Girard, R. (1988). Der Sündenbock. Einsiedeln: Benziger Verlag.
[2] „Ein immer wiederkehrendes Thema in der Literatur des puritanischen Neu England sowie auch später in der Literatur der amerikanischen Gründungszeit war, dass die amerikanische Erfahrung mit derjenigen der 'Kinder Israels' verglichen wurde, die durch ihre Flucht aus Ägypten der Sklaverei entflohen waren.“ Dreisbach, D. L. (2011). The Bible in the political rhetoric of the American founding. Politics and religion, 4(3), 401-427, 415.
[3] Aus: V. P. Gay (2016/2021). American Slavery: Privileges and Pleasures. New York: IP Books, pp. 83-85.
[4] Alle Zitate aus: 'State versus John Mann'. 13 N.C. 263 (1829). Siehe: http://plaza.ufl.edu/edale/Mann.htm
[5] Siehe: Robert M. Cover. Justice Accused: Antislavery and the Judicial Process. New Haven, CT: Yale University Press, 1984, p. 77-79.
[6] Thomas Jefferson zu John Holmes, (in einer Diskussion über Sklaverei und die Missouri-Frage), Monticello, April 22, 1820. Jefferson gebrauchte dieselbe Formulierung noch bei zwei anderen Gelegenheiten. Siehe: Monticello, http://www.monticello.org/site/jefferson/wolf-ears#_note-0

Bild: Eine Frau aus New Orleans, Mary Azélie Haydel, und eine namenlose Sklavin in der Mitte des 19. Jahrhunderts (via Wikimedia)
 
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck
 

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