Kastenbewusstsein

Shifa Haq
 

Engagement für soziale Gerechtigkeit ist für die indische Psychoanalyse unerlässlich. Die Analyse bleibt unvollständig, wenn sie das Kastendenken als Geisel im indischen Unbewussten außer Acht lässt.

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Gewohnheit äußert sich in der Regel nicht als Gefühl.  
 „Habit“, F.M. Shinde
(ins Englische übersetzt von Priya Adarkar und ins Deutsch von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck)

Jeder Sommer in meiner Kindheit bedeutete für mich so etwas wie eine rituelle Heimkehr ins Haus meiner Großmutter, die in der Nähe des Flusses Gonti im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh lebte. Verglichen mit unserem einsamen Leben in Delhi bot mir das Leben dort ein unglaublich vielfältiges Netzwerk von Beziehungen. Die lebendige alljährliche Wiederauffrischung von verwandtschaftlichen Beziehungen zu mehr oder weniger entfernten Cousinen und Cousins, den Nachkommen meiner Ahnen und Vorfahren und deren Kindern, all dem konnte ich damals Sommer für Sommer freudig entgegensehen. Wobei in diesem Zusammenhang in meiner freudigen Erinnerung auch noch viele andere Menschen auftauchen, wie etwa die Religionsgelehrten („Maulvis“), Schneider, Barbiere und Metzger. Und eben deswegen war ich dann wohl auch immer so entsetzt und verstört, wenn am Abend nach einem draußen beim Spielen verbrachten Tag unsere Tante plötzlich vorwurfsvoll und verächtlich lauthals verkündete, dass unsere schlammig schmutzigen Füße genau wie die von einer „Chamarin“ aussahen und deshalb keinesfalls im Hause geduldet werden konnten. Ich hatte diesen Namen noch nie zuvor gehört und wusste folglich nicht, wer sie war und wie sie aussah. Und natürlich wusste ich auch nicht, dass damit nicht eine bestimmte, einzelne Frau gemeint war, sondern dass dies vielmehr eine mit gegerbtem Leder (tanning leather) assoziierte Sammelbezeichnung für all die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen war, eine, wie mir schien, aus der Luft gegriffene Bezeichnung für die ewig Unsichtbaren. Aber da war etwas im Ton der Stimme meiner Tante, das mich überzeugt sein ließ, dass es sich hier um einen potentiellen Niedergang des Selbst handelte, zu schrecklich, um damit in Berührung zu kommen oder dies auch nur in seiner Nähe dulden zu wollen. Jedenfalls befürchtete ich dadurch eine Gefährdung für die so dringend benötigte Liebe und wohlwollend bestätigende Zuwendung. Als ich mir dann die Hände und Füße wusch, empfand ich eine große Erleichterung darüber, dass ich das gerade noch einmal hatte abwenden können, wovon ich so sehr gefürchtet hatte, es könnte mich womöglich bis zur Unkenntlichkeit und Unumkehrbarkeit mutieren lassen. Und nichtsdestotrotz hatte sich gleichzeitig in meiner Seele der entsetzliche Gedanke von Demütigung und Zurückweisung unauslöschlich festgesetzt. Ich erlebte es wie einen Warnhinweis darauf, dass man von zuhause verbannt und verstoßen werden konnte – fortan für immer namenlos und ein gesellschaftlicher Paria. Anstatt mich also nach dem Waschritual sicher zu fühlen, konnte ich mich auch weiterhin nicht des Gefühls erwehren, dass meine Tante überzeugt davon war, Schmutz und Unrat seien endemisch und gehörten zu gewissen Menschen (einschließlich mir) einfach dazu, wogegen dann auch das Waschen letzlich nichts ausrichten konnte – ganz so wie ein Geburtsfehler oder permanentes Defizit. Ohne dass es mir bewusst geworden wäre, hatte ich meine erste Lektion in Bezug auf die Unreinen und Unberührbaren der niederen Kasten innerhalb des indischen Kastenwesens erteilt bekommen. Verunglimpfungen, wie beispielsweise „chamar“ (männlich) oder „chamarin“ (weiblich), werden pejorativ und strategisch verwendet, um die Dalits (die Unberührbaren) – oder auch andere unterdrückte und diskriminierte Kasten – in Indien und anderswo zu kränken und zu erniedrigen.

Das hinduistische Kastenwesen ist eine Form von einem repressiven, hierarisch strukturierten Gesellschaftssystem, das auf den Normen ritueller Reinheit und Unreinheit, hereditärer Weitergabe sowie der gesellschaftlichen und beruflichen Trennung und Ausgrenzung beruht. Die Autorität hierfür leitet das Kastensystem von antiken Hindutexten ab, die die Aberkennung von grundlegenden Menschenrechten legitimiert, wie etwa den Zugang zu Trinkwasser, die Freiheit, öffentliche Straßen und Wege zu benutzen, oder die Freiheit, für sich einen Beruf zu wählen, der einem nicht kraft Geburt zugewiesen wurde. Im heutigen Indien ist das Kastenwesen kein umstrittenes Vermächtnis, sondern es ist vielmehr eine perniziöse Hybridität der Unterdrückung. Die Geschichte der Dalits berichtet von an den Körpern der Dalits begangenen scheußlichsten Greueltaten, wie sie häufig durch Zwangsarbeit in Gerbereien oder Krematorien vorkamen, oder aber durch das, was man im Englischen „manual scavenging“ nennt, d.h. das manuelle Sammeln und Entfernen menschlicher Exkremente aus Trockenlatrinen, wo die Menschen dann auch noch routinemäßig gelyncht und vergewaltigt wurden. Im Hinduismus bedeutet „Dalit“ soviel wie „zerbrochen“ oder „kaputtgegangen“ – eine Bezeichnung und zugleich eine politische Identität, die die 'Unberührbaren' für sich selbst und ihre Kaste in Anspruch nehmen. So kann man mit Fug und Recht behaupten, dass das Kastenwesen ein unheilbares Symptom der indischen Seele darstellt. Dagegen ist es für die meisten Inder der höheren Kasten ein unausgesprochenes Nichts – eine aggressive Negierung – insbesondere dann, wenn ihnen ihre Herkunft Privilegien und Macht zusichert.

In seinem Aufsatz „Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds“ betrachtet Freud Frauen generell als Subjekte mit einem kongenitalen Penismangel, weswegen sie von Kastrationsangst verschont bleiben, was aber andererseits Freud zufolge für die Entwicklung von Stärke, Unabhängigkeit und moralischer Gesinnung des Mannes konstitutiv ist. Seiner Ansicht nach verfügen Frauen grundsätzlich über ein weniger entwickeltes moralisches Gewissen und ein geringeres Urteilsvermögen als Männer. Frappierend ähnliche Ideen postuliert auch der brahmanische Hinduismus für die niederen Kasten, denen er kraft Geburt eine grundlegende Minderwertigkeit, Mangel an Intelligenz und Urteilsvermögen attestiert, wodurch dann die soziale Kontrolle, Unterwerfung und systematische Ausbeutung der Dalits gerechtfertigt erscheint und folglich in der indischen Seele weder Scham- noch Schuldgefühle hinterlässt. Die Jahrhunderte andauernde körperliche und seelische Ausbeutung der Kaste der Dalits hat eine radikale Veränderung im Bewusstsein der Hindus bewirkt. Typisch für das Gefühlsleben der Unterdrücker sind die fehlenden Schuld- und Schamgefühle, die hinwiederum eine notwendige Voraussetzung dafür wären, um im Unterdrücker introspektive und reparative Prozesse in Gang zu setzen. Umgekehrt ist jedoch zu beobachten, dass sich bei den Unterdrückten vermehrt Gefühle von Erniedrigung und Wut zu regen beginnen, was als das Aufbrechen alter Wunden, als eine Art von zaghaftem Beginn von etwas Neuem gedeutet werden kann. Ich behaupte, dass die affektive Oberfläche der Demütigung uns so etwas wie eine Kasten-Topographie liefert.

In seinem Aufsatz „Mool Nayak“ schreibt B. R. Ambedkar, ein revolutionärer Denker des modernen Indiens, dass sich die Rigidität der Kastentrennung mit einem „Turm“ vergleichen lässt, „der mehrere Stockwerke hat, allerdings ohne eine verbindende Leiter oder Treppe dazwischen und ohne jeglichen Zugang. In demjenigen Stockwerk, in dem man geboren wurde, wird man auch sterben“ (Kapoor). Nachdem er während seines dreijährigen Aufenthalts an der Columbia Universität in New York (1913-1916) den Kampf der Schwarzen um Achtung und Gleichberechtigung und gegen die Rassentrennung in den USA miterlebt hatte, die mit angeblich naturgegebenen und angeborenen Unterschieden zwischen den Rassen begründet und gerechtfertigt wurde, postulierte Ambedkar zwei unterschiedliche Systeme der Unterdrückung – i.e. die der Sklaverei und der Unberührbarkeit – wobei es ihm besonders wichtig war, auf das Ausmaß an psychischer und seelischer Zerstörung aufmerksam zu machen, das diese beiden Unterdrückungssysteme typischerweise bewirken. Diesbezüglich formulierte Ambedkar: „Sklaverei war niemals obligatorisch. Aber die Unberührbarkeit ist es“ (ibid, pp. 5345), wobei er die Schlussfolgerung zog, dass eine offene und direkte Form der Versklavung immer noch derjenigen vorzuziehen sei, wie sie im Fall der „Unberührbaren“ gegeben ist, wo die Betreffenden ihrer Seele und Psyche beraubt werden. Ambedkar zufolge ist das Bewusstwerden der eigenen Unterdrückung ein notwendiger erster Schritt in Richtung einer Auflehnung gegen die religiöse Deutung der Theorie von Karma und hereditärer Weitergabe qua Geburt. Für die Kaste der Hindus und Dalits, die sich entschieden von den religiösen Wurzeln der Unterdrückung aufgrund von Kastenzugehörigkeit losgesagt haben, stellte diese Art von Eigeninitiative einen mutigen und gefährlichen Schritt dar, denn dies bedeutet, dass der desavouierte und „ungewollte“ Wirklichkeitsanteil nun womöglich im Ich wiederkehrt, nur um für sich einzufordern, erneut repatriiert zu werden (Freud, 1927).

In Indien als praktizierender Psychoanalytiker tätig zu sein – wobei es dann möglicherweise unumgänglich wird, das starre Kastenbewussstsein zu hinterfragen und zu unterminieren, etwas, das im Unbewussten der Inder nach wie vor genauso tabuisiert wird wie Inzest oder Elternmord – erfordert ein immenses Maß an Engagement für soziale Gerechtigkeit. Es erfordert vom Analytiker allerdings auch die Erkenntnis und Anerkennung, dass die analytische Neutralität nicht die einzige Möglichkeit darstellt, um einen Bogen zu unseren Patienten zu schlagen, um sie dort abzuholen, wo sie am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt sind, über etwas von sich aus zu sprechen.   

Siya, eine Patientin Ende dreißig, weint, und zwar – wie sie es für gewöhnlich tut – sehr, sehr leise. Nun gibt es da bei dieser Patientin so eine Art von Ritual bzw. Angewohnheit: In dem Moment, wo sie merkt, dass sie den Tränen nahe ist, stellt sie sich schnell eine Art von „Tränentoilette“ bereit, wobei sie die Box mit den Papiertaschentüchern neben ihrem Stuhl platziert und den Abfallbehälter vor ihre Füße hinstellt. Jedesmal, wenn sie eine Träne im Auge verspürt, wischt sie energisch über ihre Augen, schneuzt sich die Nase und wirft einen Blick auf den vor ihr stehenden Abfallbehälter. Es schmerzt mich mitansehen zu müssen, wie ihre barschen Hände jedes gerade erst im Entstehen begriffene Tränentröpfchen bereits im Keim beseitigen. Mir wird klar, dass es ihr unmöglich ist ihren Tränen freien Lauf zu lassen, um nur ja nicht ein eigenständiges Gefühl in sich zulassen zu müssen, anders gesagt, einen Tränenpfad, der sie möglicherweise hinführt zu ihren eigenen Empfindungen und Emotionen. Stattdessen schneuzt sie sich sofort die Nase und wischt sich kräftig die Augen, nur um sich ja nicht eventuell auf einmal mit irgendwelchen widerlichen und unreinen Ausscheidungen des Körpers konfrontiert zu sehen. Wenn meine Patientin gegangen ist, sehe ich dann häufig, dass einige gebrauchte Papiertaschentücher den Abfallbehälter verfehlt haben und daneben auf dem Fußboden verstreut herumliegen. Manchmal ekle ich mich davor sie aufzuheben. Es gibt sogar Tage, wo ich mich frage, ob ich mich womöglich davon gedemütigt fühle. Aber es fühlt sich dennoch seltsam für mich an, und ich finde es eher untypisch für mich. Dies wiederholt sich im Laufe ihrer Therapie über einige Jahre hinweg. Eines Tages erzählt sie mir dann in einer ihrer Sitzungen, wie sehr sie angewidert gewesen sei von der autoritären Einstellung ihres Vaters und den damit einhergehenden Erwartungen und Forderungen an sämtliche Frauen in der Familie, ihm stets zu Diensten zu sein und ohne Widerrede zu gehorchen. Im Anschluss daran tauchen auch noch viele andere Erinnerungen auf. Bei einer Erinnerung verweilt sie besonders lang – diese bezieht sich auf eine bestimmte für sie schwer erträgliche und in ihrer Kindheit und Jugend häufig wiederkehrende Begebenheit mit ihrem Vater, der jedesmal, wenn er ein Bad nahm, hinterher seine schmutzige Unterwäsche liegen ließ und dabei stillschweigend erwartete, dass sie von jemand anderem, d.h., von einer der Frauen in der Familie, gewaschen wird. Sich zu weigern, kam überhaupt nicht in Frage. Sie empfindet das als erniedrigend und beschämend, so als ob ihr dadurch der ihr gebührende niedrigere Rang innerhalb der Familie zugewiesen würde. In diesem Augenblick beginnt sie heftig zu weinen, woraufhin sie sich sogleich energisch die Tränen vom Gesicht abwischt und dann versucht in den Abfallbehälter zu zielen. Ein paar zusammengeknüllte, gebrauchte Papiertaschentücher fallen daneben auf den Boden. Ich überlege, wie das Unaussprechliche zur Sprache gebracht werden könnte. Und so sage ich zu ihr: “Ich glaube, ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich das anfühlt. Dadurch, dass Sie es mir überlassen, die gebrauchten Papiertaschentücher aufzuheben, nachdem sie von hier weggegangen sind, zeigen Sie mir, wie es ist erniedrigt und gedemütigt zu werden. Sie wirkt schockiert und sagt: „Das war nie meine Absicht. Tue ich das denn wirklich? “ Ein Weilchen später, vermutlich um sich zu rechtfertigen, fügt sie noch hinzu: „Ich dachte, sie hätten jemand, der den Raum hinterher für Sie sauber macht.“  

Dadurch, dass es uns in der therapeutischen Beziehung gelungen war, gemeinsam eine sehr persönliche Erfahrung in Szene zu setzen, ein sozusagen „schmutziges Geheimnis“, das die Verbindung zur anal-sadistischen Welt des Vaters (und der Mutter) herstellt, wurde mit einmal spürbar, dass wir die Sprache der Demütigung und Erniedrigung sprachen, eine Sprache des Hasses auf ein kolonisierendes und erotisiertes Objekt. Dabei übernahm ich die Funktion der Toiletten-Brust – die gebraucht, aber nicht geliebt wird – die der Patientin dazu diente, abgespaltene Aggression darin zu entsorgen, weil durch diese psychische Strategie die nahrungspendenden Aspekte der Brust getrennt gehalten und somit sichergestellt werden können (Meltzer; Lemma). Mir wurde über diese besondere Begegnung schließlich auch bewusst, was der Grund für die zuvor so rigide Aufspaltung gewesen war, denn genau in dem Moment, wo die Spaltung zusammenzubrechen begann, zeigten sich intensive Ängste, die mit Phantasien von Verunreinigung, Verschmutzung und Vergiftung assoziiert wurden, wie sie auch zwischen den Geschlechtern und zwischen den Kasten typischerweise wirksam werden. Wie fühlt es sich an, als Toilette zu fungieren und lediglich gebraucht und nicht geliebt zu werden? Was tut sich außerdem noch in der äußeren Realität, abgesehen von der Wiederherstellung der eigenen intrapsychischen Welt bzw. der inneren psychischen Realität? Welche sozialen Strukturen oder Identitäten kommen infolgedessen in der äußeren Realität ans Licht - und zwar insbesondere im Hinblick auf das Erleben von Demütigung und Erniedrigung? Bedenkt man, dass dieser Austausch in der therapeutischen Beziehung zwischen einer der Hindukaste angehörenden Patientin und einer muslimischen Therapeutin stattfand, so müsste es meiner Ansicht nach doch durchaus von besonderem analytischen Interesse und Nutzen sein, die spezifische Dynamik der Geschichte der Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen genauer zu verstehen. Dazu wäre zunächst zu sagen, dass in der sozialen und politischen Vorstellungswelt in Indien den ersteren der Status der Überlegenen und Herren zugeschrieben wird, wohingegen den letzteren der Status einer untergeordneten Minderheit zukommt. Ich behaupte infolgedessen, dass eine in Indien durchgeführte Analyse unvollständig bleibt, wenn sie das Kastenproblem außer Acht und unberücksichtigt lässt, weil es dann zwangsläufig als Phantom im indischen Unbewussten wie eine zerstörerisch monströse Geißel auch weiterhin ihr Unwesen treibt.

Die Vorstellung der Patientin, dass es da irgend jemanden gibt, der für mich mein Behandlungszimmer saubermacht, kann wohl kaum als ein herausforderndes Pochen an die verschlossene Tür des Privatelebens der Therapeutin gedeutet werden – weil die Patientin vielleicht insgeheim unbedingt herausfinden wollte, ob es da einen ödipalen Dritten gibt, mit dem ich eine intime Beziehung unterhalte und eine beneidenswerte Nähe genieße. Es handelt sich dabei meiner Auffassung nach vielmehr um die gespenstische Wiederkehr des zutiefst im Unbewussten verankerten Kastendenkens und die damit einhergehende stillschweigende komplizenhafte Mitbeteiligung an Herabsetzung, Zurückweisung und Annihilierung des Anderen (Guru). Die Patientin schützt sich vor der Erkenntnis, dass sie und ich in gewisser Hinsicht grundlegend verschieden sind, und zwar schützt sie sich dadurch, dass sie die Zugehörigkeit zur untergeordneten Kaste jemand anderem zuweist, d.h. jemand Außenstehendem. Durch die von der Patientin gemachte Vermutung, ich hätte „jemanden zum Saubermachen“, wird schlagartig evident, dass sie offensichtlich stillschweigend davon ausgeht, wir beide, sie und ich, würden dieselbe tiefsitzende Verachtung und Abneigung haben gegenüber körperlicher Verunreinigung, oder gar schlimmer noch, gegenüber derjenigen Person, die sauber macht (häufig eine Dalit, eine Muslime oder eine Geflüchtete) – jedenfalls jemand aus der Schar der namenlosen Schatten, die zeitweilig aus den städtischen Ghettos hervorkommen, nur um in periodischen Abständen den oberen Kasten und oberen Klassen zu Diensten zu sein und dann schnell wieder in ihre namenlose Schattenhaftigkeit zu verschwinden. Die Putzfrau, die sauber macht, steht in einem besonders explosiven Moment der Übertragung stellvertretend für die Therapeutin. Doch es gibt da außerdem auch noch die andere Ebene, die dafür verantwortlich ist, dass die Patientin in ihrer Vorstellung überzeugt davon ist, dass ich, ebenso wie auch sie, nicht zu meinen verschmutzten und verdreckten Selbstanteilen stehe (der Vater), sondern diese vielmehr verwerfe und nicht anerkenne und stattdessen zum Entsorgen an jemand weniger Privilegierten weitergebe, was mich wiederum in ihrer Vorstellung zu einer neutralen und unkritischen Akteurin (die Mutter) werden lässt, die völlig unbeeindruckt ist von der durch das Kastensystem von Generation zu Generation weitergegebenen Entwertung anderer.

Wenn wir darüber nachdenken, was es wirklich bedeutet, den anderen in ko-kreierten Augenblicken im gegenseitigen Beziehungsaustausch anzuerkennen, dann haben wir im besten Falle eine Situation vor Augen, in der zwei Personen – mit einem jeweils unterschiedlichen Denken und Bewusstsein – das für Unterwerfung/Beherrschung typische hierarachische Beziehungsmuster momentan überwinden und transzendieren. Gegenseitige Anerkennung impliziert stets eine aus der Begegnung mit der Verschiedenheit des Anderen erwachsene Transformation, das heißt. es enststeht das Selbst als das Andere des Anderen. Der Andere überlebt die Zerstörung, um auf dieser Basis günstigenfalls eine wahre Entdeckung von einem Subjekt möglich zu machen, das einerseits ebenso ist wie ich, aber andererseits verschieden und getrennt von mir (Benjamin). Kastenbeziehungen beruhen hingegen auf der Anerkennung eines Mehrwerts („surplus“), was unweigerlich bedeutet, dass irgend jemand in der Gesellschaft einen sozialen Preis bezahlen muss für diese Aufwertung eines Anderen (Guru). Für den Kontext der indischen Gesellschaft heißt das, dass die Dalits und Muslime in der Regel zu etwas Minderwertigem und Primitivem herabgestuft werden, indem man sie etwa mit Tieren gleichsetzt, oder aber auf einer strukturellen Ebene mit einer Ware. Wenn sie auf den Verdacht hin, eine Kuh geschlachtet zu haben, einfach gelyncht werden, so bedeutet dies, dass sie, was ihren Wert betrifft, als noch geringer eingestuft werden als die Tiere. Wenn man das Leben bestimmter Menschen, einschließlich ihrer Arbeitskraft, als von vorneherein minderwertig und anstößig einstuft, so entsteht dadurch ein Kastenbewusstsein, das zutiefst geprägt ist von der Erfahrung permanenter Herabsetzung und Diskriminierung, das aber – gerade weil es so tief im Unbewussten verankert ist – einem Bereich angehört, welcher dem bewussten Erinnerungsvermögen verwehrt bleibt. In der psychoanalytischen Praxis sind es dann diese Inszenierungen bzw. Enactments von scheinbar „harmlosen“ Angewohnheiten – quasi ein „Spiel im Spiel“ –, wodurch die Kaste in der Klinik als eine „undenkbare Katastrophe“ wiederkehrt, wie sie sich etwa durch eine die Wange herabrollende Träne im eigenen Gesicht oder im Gesicht des Anderen urplötzlich schmerzhaft spürbar macht.

Literatur
Benjamin, J. (2017). Beyond Doer and Done To – Recognition Theory, Intersubjectivity and the Third. Routledge: New York.
Freud, S. (1925). Einige psychischen Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds. G.W. Bd. 14, S.19-30.
Freud, S. (1927). Fetischismus. G.W. Bd. 14, S. 311-317.
Guru, G. (2011). Humiliation – Claims and Context. New Delhi: Oxford University Press.
Kapoor, S.D. (2003). B.R. Ambedkar, W.E.B. DuBois and the Process of Liberation. Political and Economic Weekly, vol. 38, issue no. 51-52, December 27, 5344-5349. 
Lemma, A. (2014). Off the couch, into the toilet: exploring the psychic uses of analyst’s toilet. Journal of the American Psychoanalytic Association, vol. 62, issue 1, 35-56.
Meltzer, D.W. (1967). Der psychoanalytische Prozess. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse, 1995.
Shinde, F. M. (2009). Habit, trans. Priya Adarkar. In A. Dangle (ed.), Poisoned Bread. Hyderabad: Orient Black Swan, p. 80.

Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.
 

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