Carter ist so hübsch
Dr. Stephen Hartman
Trauma wird am Schnittpunkt sich überlagernder Bereiche von Gender, Sexualität, Klassen- und Rassenzugehörigkeit verortert und auf die Rolle unbewusster gesellschaftlicher Normen hin untersucht.
Prolog
Die im Bereich von Gender, Sexualität, Rassen- und Klassenzugehörigkeit ausgetragenen Kämpfe lassen Konfliktsituationen entstehen, die eine Manifestation der rekursiven Verschränkung von Psyche und gesellschaftlichem Habitus sind, und die, wenn sie aus dem Zufluchts- und Schonraum des Unbewussten heraustreten, ungeschützt im grellen Tageslicht erscheinen. An diesen intersektionalen Knotenpunkten arbeiten sich die Menschen permanent ab, in dem Bestreben, sich irgendwie notdürftig ein Körpergefühl zurechtzulegen, das es ihnen ermöglicht, sich in die Sphären des Genusses und der Lust zu begeben, wobei sie sich eines schier unerschöpflichen Reservoirs aus bereits bestehenden bzw. vorgefertigten und auch neuen Objekten bedienen können, welches für einen jeden von uns eine Fülle von allen möglichen Genderformen und Sexualitäten bereithält, in die hinein wir uns dann verleiblichen können und ihnen auf diese Weise eine konkrete Form und Gestalt zu geben vermögen. Nun ist Rasse im Unterschied zu Gender und Sexualität eine Dimension, die in weit geringerem Ausmaß von gesellschaftlichen Zuordnungen und Zuschreibungen lebt und somit weniger davon normativ geprägt und beeinflusst wird und infolgedessen weniger dehnbar ist.
Gender und Sexualität adaptieren sich stets an dasjenige, was realisierbar bzw. möglich erscheint und was erlaubt ist (Dimen, 1984), und stützen sich gleichzeitig auch auf die von der Identität bereitgestellte Kohärenz – und zwar geschieht dies oftmals so, dass ein bestimmter Bereich in den Vordergrund gerückt und dabei gleichzeitig ein anderer in den Hintergrund gedrängt wird. Dadurch, dass der Schwerpunkt der psychoanalytischen Aufmerksamkeit weg von der Gender-Psychobiologie hin auf die intersektionale Geographie verlagert wird (Harris, 2019), versucht die Psychoanalyse noch genauer zu erfassen, wie Sexualitäts-, Gender-, Rassen- und Klassen-spezifische Erfahrungen in einer Art von psychosozialem Mischmasch miteinander um Aufmerksamkeit ringen, indem sie sich etwa im Rahmen der analytischen Sitzung miteinander wetteifernd zu Wort melden und so Gehör zu verschaffen versuchen. Paradoxerweise wird Identität (als funktionales Vehikel hin zur Kohärenz) immer dann als etwas Traumatisches erfahren, wenn durch das vonseiten des Anderen erteilte Gebot die sich überschneidenden Erfahrungsvektoren in ranghöhere und rangniedrigere Singularitäten aufgeteilt bzw. aufgesplittet werden. Zentrales Anliegen des hier vorliegenden Essays ist es, eine von solch einem Ringen und Kampf geprägte Geschichte exemplarisch zur Darstellung zu bringen, und zwar ohne sich bei den geschilderten Beobachtungen auf eine bestimmte Entwicklungstheorie oder analytische Technik zu berufen, um so der Komplexität bestmöglich gerecht werden zu können und eine vorschnelle Klassifizierung bzw. Taxonomie zu vermeiden.
Carter sieht so unglaublich gut aus
Carter sieht so verdammt gut aus, dass es bisweilen schwer fällt, seinem Blick standzuhalten und ihn längere Zeit anzuschauen, ohne dabei mit den Augen die sanfte Linie von seinen sich auf der Stirn üppig wellenden Locken bis hinunter zu seinen vollen Lippen nachzuzeichnen, die – selbst wenn er missmutig dreinschaut, was häufig vorkommt – geradezu eine verlockende Einladung für eine Umarmung darstellen. Manche würden ihn als ‘hübsch’ bezeichnen, obwohl er braun und dunkelhäutig ist und einen schlacksig sehnigen Oberkörper hat, mit Oberschenkeln gerade so wie einer von den US-NAVY-SEALS. Frauen rivalisieren mit ihm, wohingegen Männer ihn für schwul halten. In Blitzesschnelle wechseln sich im Auge des Betrachters Gender und Sexualität ab, was soviel heißt, wie dass dem Objekt jeweils ganz unwillkürlich eine ständig wechselnde sexuelle Orientierung vonseiten des Anderen zugeordnet wird, und zwar immer je nach dem, wie es den besonderen Ansprüchen und Erfordernissen des Blickes des betreffenden Betrachters gerade Genüge tut.
Carter kann dem ungeheuren Begehren und der ihm entgegengebrachten Bewunderung vonseiten der Anderen, egal in welcher Art und Form, einfach nicht widerstehen, obschon er sich von diesem von einem verführungssüchtigen Voyeurismus begleiteten Begehren gleichzeitig auch überrumpelt, manipuliert und gegängelt fühlt, da sich Carter – während seine Bewunderer schon dabei sind, seinen Körper auf sich einwirken zu lassen und mit gierigen Augen zu verschlingen, und ihm bereits eine bestimmte Sexualität zuschreiben – erst noch mitten in einem Selbstfindungsprozess befindet, wo er Gender und Sexualität für sich selber auszuhandeln versucht, bevor er dann der ein oder anderen ihm zugewisenen Richtung zustimmen könnte. Carter will weder ‘metro-sexuell’, noch will er extra ‘gender queer’ sein. Nein, er will ganz einfach Carter sein. Der Anblick von Carter wird also genau genommen nicht im eigentlichen Sinne mit Sexualität in Verbindung gebracht, sondern er löst vielmehr unmittelbar und unwillkürlich um Sex bzw. das sexuelle Begehren kreisende assoziative Gedanken bei den Anderen aus. Und so wird Carter ironischerweise zum mehr oder weniger willentlichen Komplizen all derer, die Intimität zu etwas Geschlechts-losem bzw. Trans-sexuellem machen, sodass er sich letztlich gegen seinen Willen dann dennoch dafür hergibt, dass andere je nach Bedarf und Belieben ihr Spiel mit ihm treiben. Man denke etwa an Prince, oder auch an Jake Gyllenhaal, wie er eine Grace Jones Pose einnimmt. Oder aber man stelle sich Barack Obama vor, komplett neu eingekleidet in einen eigens für ihn entworfenen Galliano-Outfit.
Doch ganz so einfach ist es nicht! Es ist die Ideologie, die fordert, wogegen sich Carter zur Wehr zu setzen versucht – nämlich, dass der eng begrenzte Bereich des Begehrens mitsamt der Aufforderung zu Normativität Sexualität und Gender als unfreiwillige Komplizen anwirbt und rekrutiert. Für den Fall, dass Gender womöglich einmal den Bogen überspannt und die Sache zu weit treibt und somit eine dem ersten Augenschein entgegenstehende, nicht unmittelbar einleuchtende Geschichte erzählt, werden ganz einfach ‘Defizite’ beschworen. Gender ruft die Sexualität zu Hilfe, um das augenscheinlich Offenkundige abzustützen (ein hübscher Mann wie Carter muss demnach schwul sein), woraufhin Gender sich schnell wieder berappt und mit der kühnen Behauptung vorwärts prescht, ein schwul aussehender Mann wie Carter müsse doch ganz offensichtlich eine Frau sein. Diese Lockvogeltaktik ist so durchschaubar, dass offensichtlich ein jeder von uns zu übersehen scheint, wie nunmehr die Weiblichkeit die Last des Untergangs der Männlichkeit zu tragen hat.
Carter wird nicht selten von jemandem in eine heikle und schwierige Situation gebracht, und zwar immer dann, wenn er in jemandem Begehren weckt, der von ihm verlangt, er solle doch nun gefälligst offen und ehrlich Farbe bekennen und zu dem ihm zugewiesenen Geschlecht stehen. Das löst bei Carter regelmäßg eine innere Krise aus. Sein Gesicht nimmt schlagartig einen finsteren und verdüsterten Ausdruck an. Er sucht das Weite, um sich so schnell als möglich den Blicken des Anderen zu entziehen. Er leckt sich seine Wunden: Wunden, die ihm aufgrund seiner besonderen Rassen- sowie auch seiner Klassenzugehörigkeit zugefügt wurden. Es sind dies ganz unterschiedliche Wunden, die freilich nicht als solche bezeichnet werden, sondern sie werden vielmehr als ‘Gender’ und ‘Sexualität’ verbrämt, und zwar nur um Zugeständnisse zu machen, was letztlich nichts anderem als der Wahrung der allgemeinen Begehrensökonomie dienen soll. In dem depersonalisierten Zustand, in dem sich Carter befindet, kommt er sich vor wie irgend so ein kleiner schwarzer Jung 1, der sich nur noch vor seinen Peinigern in ein ausschließlich ihm selber zugängliches, leerstehendes Versteck seines Bewusstseins flüchten möchte. Carter hütet und beschützt diesen für andere nicht wahrnehmbaren Grenz- bzw. Übergangsbereich seiner Psyche, wo das Unaussprechliche unbenannt bleibt, und wo er sich für einmal vor der ihm so verhassten festlegenden und kartographischen Zuordnung von außen sicher fühlen kann. Und so schaut er finster und voller düsterem Unmut hinter seiner sexy anmutenden Maske hervor. Nachdem dann Carter eines Wintermorgens in einem von ihm geleiteten Meeting, wo er einen im Stil des italienischen Modeschöpfers Valentino geschneiderten Kittel trug, dessen Kreationen ja bekanntlich für höchste Eleganz und außergewöhnlichen Stil stehen, einen höllischen Tumult ausgelöst hatte, hatte man ihn dann sogar dazu überredet, in einer für Mediziner und Pflegepersonal typischen Uniform, d.h. in einer Art von Krankenhauskittel, seine Kurse zu geben.
Carter ist so un-eindeutig
Die klassische Psychoanalyse berief sich zunächst auf die offensichtlich biologische Determiniertheit von Gender und Geschlecht, um darüber schließlich zu einer zweckdienlichen und schlüssigen Klassifizierung bzw. Taxonomie von psychischen Positionen zu gelangen, was es wiederum möglich machte, die Implikationen psychischer Bisexualität zu verstehen und ein Modell von einer allgemeingültigen Heterosexualität zu konzipieren. Wenn wir nun eine ganze Reihe von historisch erzielten Fortschritten überspringend weiterdenken, so entdecken wir, dass diese auf der Ebene der Metapsychologie von Freud entwickelte Theorie der erweiterten Sexualtät, welche die ausschließlich auf anatomischen Gegebenheiten basierende Geschlechterzugehörigkeit hinter sich lässt, uns direkt zur innovativen Auffassung von der gesellschaftlichen Zuordnung von Sexualität führt, wie sie auch von Laplanche vertreten wird, wobei der infantilen Sexualität (Laplanche 2011) eine Schlüsselfunktion zukommt. Ein sich durch das autonome Sexuale des Kleinkindes (so der von Laplanche geprägte Terminus) definierendes Unbewusstes sichert nun zwar dem Analytiker einen einigermaßen festen Stand in einem fast ausschließlich den Weißen vorbehaltenen, privilegierten Bereich, wo es erlaubt und möglich ist, sich der Nicht-Eindeutigkeit bzw. Vieldeutigkeit zu überlassen, aber es ändert zunächst einmal grundsätzlich nichts an der Lebenswelt der Farbigen bzw. Schwarzen, die auch weiterhin in einem verabsolutierenden Sinne auf die Eindeutigkeit von Gender und Rasse festgelegt werden, mit anderen Worten könnte man sagen, es wird ihnen nach wie vor nicht zugestanden, aus dem Dunkel der Ein-deutigkeit in den Schatten der schöpferischen Viel-deutigkeit herauszutreten (Mbembe, 2017).
Wenn nun aber Gender bzw. Geschlechtlichkeit fließend ist, und es auch gemischtrassige Personen gibt, dann gilt es eine Menge zu berücksichtigen und zu bedenken – was ziemlich unbequem und lästig sein kann, wenn man mit einmal tatsächlich so jemandem von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, dessen auf den ersten Blick verwirrende Vieldeutigkeit eine deregulierende Wirkung auf einen ausübt. Kein Wunder also, dass Carters Ex von ihm verlangt, er möge Roger Ramjet nachahmen und sich doch gefälligst ganz auf dessen eindeutigen und simplen Charakter hin trimmen. Carter ist ziemlich angenervt, aber er ist absolut nicht gewillt, sich für irgend jemand anderen ins Zeug zu legen und sich ihm oder ihr zuliebe womöglich extra aufzupeppen.
Vielleicht sind Gender und Sexualität nicht so dichotom wie halal und haram? Und Rasse ist ja möglicherweise auch kein apres coup im Unbewussten, das aus einem Sexualen heraus entstanden ist, das nur sich selbst ein Anderer ist? Die sich überlagernden Botschaften des Anderen erzeugen Bedeutung in einer rekursiven Kette von Transformationen: die rätselhaften Botschaften des Begehrens sind auf der Suche nach einem Ort im Bewusstsein – denn es ist unabdingbar, dass dem Begehren ein Ort im Bewusstsein des Anderen zugeteilt wird – was immer nur im Rahmen und vor dem Hintergrund einer Kultur möglich ist – sodass das Begehren sich im Körper verankern und mit Bedeutung ausgestattet werden kann. Dank dieser rekursiven Kreisbewegung befinden sich Sexualität, Gender und Rasse in ständiger gegenseitiger Wechselwirkung, was eine fortwährende Ausarbeitung und Verfeinerung gewährleistet. Aber wenn Gender sich zu weit vorwagt und somit bis in den Übergangsraum vordringt, und wenn einem dabei die Kontrolle über die Dinge entgleitet, dann gewinnt die Sexualität zunehmend die Oberhand, wodurch einem der schöpferische Spiel-raum mitsamt der Fähigkeit zu spielen abhanden kommt und man nichts anderes mehr tun kann, als sich auf eine unschöpferische Eindeutigkeit zu versteifen.
Carter hat so unglaubliches Glück
Carter hat so verdammt großes Glück, dass seine Eltern, die Flüchtlinge waren, ihn nach einem amerikanischen Präsidenten benannt haben. Wohlgemerkt nicht nach dem gescheiterten Präsidenten, als der Jimmy Carter durch seinen Amtsnachfolger, den Marlboro Man, auf ewige Zeiten abgestempelt wurde, sondern vielmehr nach dem Mann mit Prinzipien, der Demütigungen tapfer ertrug und für neue Wohnstätten für die Menschheit sorgte.
Es waren furchtbare Dinge geschehen in jenem Land, aus dem Carters Eltern einst geflohen waren, Dinge, die zu ertragen, keinem Kind zugemutet werden sollten, weswegen darüber auch so gut wie nie gesprochen wurde. Was Carter von seinen Eltern mitgekommen hatte, war ein Überlebensinstinkt. Er wusste stets intuitiv, wann er den Mund zu halten hatte, wann es angebracht war, sich aus dem Staub zu machen und wann es besser war, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er hatte seine Eltern oft genug mit Wut im Bauch erlebt, als dass sie ihm mit ihren beharrlichen Lippenbekenntnissen zum evangelikanischen Glauben hätten wirklich etwas vormachen können. Es hatte da im Leben von Carter so gewisse Vorfälle gegeben. Als ihm etwa befohlen wurde, er möge doch seine Sünden beichten, hatte der adoleszente Carter voller Entrüstung aufbegehrt, und er hatte zum Schlag gegen den Pfarrer aufgeholt. Zwar war dies tatsächlich so ein richtig gewalttätiger Wutausbruch gewesen, aber da er sich dann doch rasch wieder gefangen und unter Kontrolle gehabt hatte und er danach auch nie wieder offen gewalttätig wurde, geriet der Vorfall bald wieder in Vergessenheit. Carter erhält Stipendien. Er unternimmt Reisen. Später engagiert er sich für alles Mögliche, er gründet eine Familie, investiert in Freunde und auch in ein reges Liebesleben. Er lebt alles in allem ein goldenes braunes Leben: selbstbewusst und interessiert an seinen Mitmenschen, lebensfroh und sorgenfrei.
Carter ist so bedrohlich
Carter sieht so furchtbar bedrohlich aus, dass seine Augen in den glanzlos fahlen Augenhöhlen ganz schwarz geworden sind und wie riesige Löcher wirken. Seine Haut hat sich in ein kränkliches Graublau verfärbt. Schlaff und leblos lässt er sich auf meine Couch fallen, und ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass seine mir so altvertraute Vitalität zurückkehren möge. Trotz seines verfinsterten Gesichts lässt sich für mich immer noch die sanfte Schönheit seiner Kinnpartie erahnen.
Zuerst kam die Trennung von der Frau, die ihm explizit sein ‘Genderdefizit’ vorhielt; und später kam dann auch noch der Vorfall mit dem Kittel hinzu. Carter ist außer sich vor Wut und Zorn, dass man von ihm verlangt, dass er sich endlich ohne Umschweife und eindeutig als das zeigt, was er ist. ‘Sei ein Mann!’, sagen sie zu Carter – was er wohl eher als Angriff auf seine Fähigkeit zu spielen erlebt, und nicht so sehr als Angriff auf seine Genderidentität. Carters schneidende Stimme bohrt sich lautlos durch das Schweigen hindurch und dringt drohend bis zu mir. ‘Versuch's doch mal!’, befiehlt er mir mit einer Stimme, die nur er hören kann. Er steht kurz davor zu platzen und auszurasten, und dann zum Schlag gegen mich auszuholen. ‘Tu's nicht!’ flüstere ich innerlich, nur für mich selber hörbar. ‘Du kannst verdammt noch mal Gift drauf nehmen, dass ich es tue!’, lässt er mich wissen, ohne dass es dafür notwendig gewesen wäre, auch nur ein Wort zu sagen. Ich nicke. Ich registriere alles aufmerksam. Ich bin darum bemüht, jene Position aufrecht zu erhalten, die in einem Bereich zwischen Töten und Getötet-werden anzusiedeln ist, und vor dem seine Eltern vor langer Zeit, schon als Carter klein war, stets zurückgeschreckt waren und intuitiv die Flucht ergriffen hatten, aber auf den Carter deswegen heute noch immer innerlich festgelegt ist.
Carter ist so lebensfroh
Carter ist so lebensfroh und beschwingt beim Kleideranprobieren in der Umkleidekabine. Sämtliche Ladenverkäufer sind hin und weg von ihm. Sie lieben ihn. Ein Commes des Garcons Männerhemd. Jawohl, das wärs doch! Carter kann es sich aber nicht leisten, doch die Verkäufer machen es möglich, denn Carter beim Anprobieren vor einem dreiteiligen Spiegel zuzuschauen, ist ein wahrer Genuss und eine Augenweide, etwa so wie Basketball zu spielen mit Jesus in einer Dschellaba, einem langen wallenden Gewand.
Carter befindet sich in einer Bar in Istanbul. In einer der billigen Kellerkneipen, wo Menschen wie Carters Eltern einst die Nächte durchgefeiert hatten und bis in die frühen Morgenstunden hinein tanzten, während oben die Panzerfahrzeuge auf den Straßen patroullierten. Der neueste Modeschrei ist ein mit Pailletten besetzter Blazer, den Carter natürlich heute trägt: der Jackenaufschlag sieht so unglaublich kurvenreich, ja gerdezu sinnlich lustbetont aus, dass verglichen damit selbst Liberace züchtig erscheint, weil der Blazer im Bolerostil ihn so girly-männlich aussehen lässt, dass es schon einen ganzen Mann bräuchte, um da wirklich etwas ausrichten zu können und Carter das Kleidungsstück vom Leib herunterzuziehen. Carter kann sein Glück nicht fassen: er ist ein kleiner brauner Junge aus dem Ghetto in einem Tableau Vivant in Pamuks Museum der Unschuld.
Trumps Inthronisierung findet Tausende von Meilen entfernt statt, und Carter ist froh und glücklich darüber, nicht dort zu sein und dieses grausige Ereignis nicht selbst mitansehen zu müssen. Seine Freunde treten den Rückzug an und setzen sich ganz hinten im Lokal an einen Tisch in der Ecke. Aber Carter hat jetzt Lust zu tanzen. Er tanzt ganz in der Nähe der Bar, als ihn mit einmal ein Mann am Ärmel zupft. Carter dreht sich abrupt um, aber ohje, ihn schwindelt! Er hatte gar nicht gemerkt, wieviel er schon getrunken hatte. Dicht neben ihm sitzt plump und unbeholfen ein weißer amerikanischer Mann an einem wackeligen Cocktailtisch und neben ihm seine Frau mit strohblonden Haaren. ‘Du bist doch bestimmt einer von diesen Schwulen aus San Francisco, was?’, pfeift ihn der Tollpatsch aus Iowa verächtlich an. ‘Na, und wenn schon’, fragt Carter erstaunt zurück, ‘was verschlägts?’, als der Mann auch schon aufsteht und ihn anherrscht und herausprustet: ‘Warum könnt ihr verdammten Kerle nicht einfach normal sein?’
Carter weiß nicht, was über ihn kommt. Sein Gesicht verfinstert sich und seine Augenfarbe nimmt ein tiefes Schwarz an. Er schlägt einfach drauf los: ‘Wieder so einer, der bekehren will, was?’ Carter packt den Republikaner im Genick und knallt sein fettes, aufgedunsenes Gesicht auf den Bartresen. Carter verliert das Gleichgewicht, und als er wieder zu Bewusstsein kommt, befindet er sich in einem schrecklichen Schlamassel: er liegt draußen auf dem Gehweg mit zerschlagenen Gliedern und ist blutüberströmt.
Irgendwann finden ihn dann seine Freunde. Die Lösung ist schnell gefunden: mehr Arak! Ausgelassen und leichtsinnig wie sie sind, machen sie sich einfach auf die Suche nach einer berüchtigt zwielichtigen Bar. Als sie die Bar fast erreicht haben, hören sie wie jemand mit quietschenden Bremsen eine Limousine zum Halten bringt. Eine Horde von Leibwächtern stürzt aus dem Auto, gefolgt von einem resoluten, kräftigen Mann, der wie ein kolumbianischer Narkoterrorist aussieht, und der eine Bohnenstange von einer Frau bei sich hat, die rote Louboutin-Schuhe trägt. Die Leibwächter geben Carter und seinen Freunden ein Zeichen, sich zu verdrücken, doch der Narko nickt mit dem Kopf, woraufhin Carters Clique zusammen mit dem Kartell in den Club hineinströmt. Erst da fällt es Carter auf, dass der schwergewichtige Narko einen maßgeschneiderten, pinkseidenen Smoking der Marke Dolce und Gabbana trägt. ‘Super! Phantastisch!’ ruft Carter aus und macht dazu das Daumen-hoch-Zeichen. ‘Guapo, ich muss unbedingt mal diesen Paillettenklunker anprobieren’, gibt der Narko zur Antwort, als die zwei Männer auch schon beide auf die Tanzfläche zusteuern, und dabei in Blitzesschnelle ihre Überjacken tauschen. Die Freundin des Narko wirft Carter einen bösen Blick zu: ‘Hey, das ist mein Mann!’ sagt sie energisch, ‘und du wirst hier verdammt nochmal keine Nummer abziehen und meine Louboutins austricksen.’ ‘Logo!’ erwidert Carter, und sie tun den Vorfall mit einem Lachen ab und machen die Nacht durch.
Aber während der nächsten drei Tage kann sich Carter kaum noch bewegen. Der Amerikaner hat gesiegt. Carter ist von der Abreibung und Prügelattacke auf ihn innerlich angeschlagen, wovon sich kein verdammter brauner Gender-Verräter, der mit voller Wucht auf den Gehweg niedergestreckt wird, so schnell wieder erholt. Er kehrt nach Hause zurück. Innerlich brennt er. Während er auf meiner Couch liegt schwelen unter der Oberfläche die inneren Kämpfe weiter, die seine alten Wunden und Blessuren erneut aufreißen lassen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Glut des Schwelbrands allmählich erlischt.
Carter ist so lebendig
Ich werde Ihnen jetzt etwas erzählen, von dem ich nicht wirklich weiß, ob es sich genau so abgespielt hat: Es handelt sich dabei um etwas, wovon Carter mir gegenüber kaum je wirklich etwas erzählt hat. Was ich damit meine, er hat nie explizit darüber gesprochen, lediglich vage Andeutungen gemacht. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Sprung ins Visionäre und Spekulative wirklich wagen soll, obwohl er mir fast wie zwangsläufig erscheint. So wie mit der Lautlosigkeit des ersten Buchstabens von Bions K, abgeleitet vom englischen know, auf eben diese Weise kenne bzw. weiß ich, dass es auf ein sich allmählich andeutendes, potentielles O hindrängt. Ich scheue davor zurück, Vermutungen anzustellen, oder schlimmer noch, zu interpretieren, weil das bedeuten würde, ein den Weißen vorbehaltenes Privileg in Anschlag zu bringen und zu beanspruchen, indem ich mir anmaße, über Carters Geschichte eindeutig und über jeden Zweifel erhaben Bescheid zu wissen, was Carter bloßstellen und ihn der von meiner Interpretation ausgehenden Anforderung schutzlos anheimgeben würde. Eine andere Option bestünde darin, nichts zu sagen und nur aufmerksamer Zeuge zu sein und derweil von meiner Reverie gelegentlich eine träumerisch-poetische Formulierung zu erbitten, welche dann die sich überlagernden Bruchstücke zu einem symbolischen Ganzen zusammenfügen könnte. Aber ich habe noch nie zu denjenigen gehört, die gewillt waren, klein bei zu geben und vor der Wahrheit zu kapitulieren, insbesondere wenn es um eine von seelischem Schock und Trauma überschattete Wahrheit geht. Und so werde ich die Geschichte folgendermaßen zu erzählen versuchen:
Carters Familie, also die Familie von Carters Vater, genauer gesagt, alle Familienmitglieder mit Ausnahme von Carters vor Angst zitterndem Vater wurden dazu gezwungen, sich in einer Reihe nebeneinander vor einer Wand aufzustellen, woraufhin sie einer nach dem anderen von einem Narkoterroristen erschossen wurden.
Ich benenne dieses Trauma, obschon das genau das ist, was wir Analytiker, die wir mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zuhören, wenn möglich zu vermeiden versuchen – aber dann mangels einer Alternative fast automatisch dennoch tun, in dem Bemühen, dem Offensichtlichen eine Wahrheit und eine Bedeutung abzuringen und auf irgendeine Weise damit zurechtzukommen. Ich versuche nicht vorwegzunehmen, was zuerst kam und was als nächstes kommt. Ich bin kein Kartograph. Ich möchte nicht einen Verbindungsbogen zu Carters Gender oder Sexualität oder Rassenzugehörigkeit spannen mit dem Schildern einer Geschichte über ein Trauma, das Carters Entwicklung beeinträchtigt und behindert hat. Ich will ganz bewusst un-eindeutig bleiben über das, was mich mein Weißsein wissen lässt.
Es ist schon paradox, denn es ist mir klar, dass all das, was wir interpellieren und nachträglich einfügen, immer dasjenige zum Ausdruck bringt und explizit macht, was für das Othering in einem Selbst zu komplex und vielschichtig ist, als dass es ertragen werden könnte. Eines jedenfalls glaube ich zu wissen: Carter ist nicht der Typus von Mensch, der aus lauter Verzweiflung mit einmal seinen Mann stehen wird, oder der sich von jemandem sagen bzw. vorschreiben lässt, wer und wie genau er zu sein hat, selbst wenn er Opfer eines blutigen Massakers wird und er als vor Todesangst zitternder Mensch in einer roten Blutlache gegen eine weiße Wand gedrückt vor einem auf ihn gerichteten Gewehrlauf steht. Vielleicht wird es da irgendwann einmal in der Zukunft Worte für all das geben, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wird es uns ja sogar vergönnt sein, die Geburt eines Präsidenten mitzuerleben. Vielleicht wird sich da aber auch eines Tages irgend so ein grobschlächtiger Narkoterrorist auf einem fremdländischen Tanzparkett gegen Ende der Nacht seine modische, mit Pailletten besetzte Bolerojacke vom Leib reißen, sie auf den Boden schmeißen und sich revoltierend Luft machen, indem er lauthals gegen seinen devianten Zwilling aufbegehrt: ‘Ich habe jetzt genug von dir, du verdammte Schwuchtel! Hau endlich ab!’
Literatur
Dimen, M. (1984). Politically correct? Politically incorrect? In C. Vance, ed., Pleasure and Danger: Exploring Female Sexuality. London: Pandora Press, pp. 138-148.
Harris, A. (2019). (Einführung zu einem IPA Panel)
Laplanche, J. (2011). Gender, Geschlecht und Sexual. In J. Laplanche.- Sexual. Gießen. Psychosozial, 2017, S. 137-172.
Mbembe, A. (2017). Critique of Black Reason. Trans. L. Dubois. Durham, North Carolina: Duke University Press.
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.