In letzter Zeit beobachten wir das Entstehen kollektiver Proteste, an denen sich Tausende Personen beteiligen. Diese Proteste weisen einige gemeinsame Merkmale auf. Sie erscheinen in sehr unterschiedlichen und weit voneinander entfernten Teilen der Welt, normalerweise gibt es Äußerungsformen von Gewalt, und das wichtigste ist, dass, obwohl es im Kampf immer um Ungleichheit zu gehen scheint, niemand wirklich verstehen kann, was eigentlich gefordert wird. Dies lässt sich aus dem Umstand herleiten, dass die Erklärungen der verschiedenen Gesellschaften und Regierungsinstitutionen von den sozialen Bewegungen nicht anerkannt wurden.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine Hypothese zu formulieren über die Natur dieser Phänomene.
Ich möchte Antworten vermeiden, wie sie in wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Perspektive üblich sind, und deshalb werde ich mich neuer oder noch unerforschter Konzepte bedienen.
Vor mehr als 35 Jahren untersuchte ich auf Veranlassung des Präsidenten Raúl Alfonsín die Ethik der Politik im Werk einer Gruppe junger deutscher Philosophen. Sie waren zu einer sehr knappen Definition gelangt: die Ethik der Politik ist die Pragmatik der menschlichen Wesensverwirklichung.
Ich wählte für diese Arbeit die Ethik der Politik als Thema, weil ich den Eindruck habe, dass nicht klar erkennbar ist, worin die Forderung der genannten sozialen Gruppen oder Bewegungen eigentlich besteht, und dass man sich nur denken kann, dass die Forderung für jedes einzelne Individuum erhoben wurde und sich im Nachhinein nicht in irgendeiner institutionellen Form konkretisiert hat. Die geografische Verbreitung der Demonstrationen scheint unabhängig von den Kulturen zu sein und könnte vielleicht erstmals auf eine gemeinsame Motivation in den Gesellschaften hinweisen.
Ich nahm einige Veränderungen vor, zum Beispiel verwende ich nicht die Begriffe, die durch andere Theorien in ihrer Bedeutung aufgeladen sind, wie Individuum oder Subjekt, stattdessen spreche ich vom Wesen. Und ich möchte vom psychoanalytischen Standpunkt aus die Idee einer Wesensverwirklichung erkunden, wobei ich sie auf innerpsychische Aspekte begrenze. So lasse ich jene Verwirklichung beiseite, welche sich auf die äußere Welt bezieht und aus kollektiver Mobilisierung oder für eine opportunistische Forderung äußerer Werte hervorgeht.
Andererseits tritt die Notwendigkeit klarer hervor, die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für seine Wesensverwirklichung anzuerkennen. Dies macht eine innere Arbeit des Menschen nötig, welche sich von dem unterscheidet, was sich aus äußeren Bedingungen ergibt.
Die Wesensverwirklichung ist eine innere Erfahrung, welche alle kognitiven und emotionalen Aspekte abdeckt. Sie besitzt die transzendentalen Qualitäten von Wahrheit, Freiheit und Schönheit. Sie tritt zutage, wenn sich eine Struktur der inneren, psychischen Welt mit einer Struktur der physischen, äußeren Welt vereint. Diese Vereinigung verwandelt sich in eine Erfahrung des In-der-Welt-Seins, welche existentiell und emotional ist. Alle menschlichen Wesen machen diese Art von Erfahrung irgendwann in ihren Beziehungen mit unterschiedlichen Aspekten der physischen Welt. Sie lässt sich nicht unterrichten oder lehren, und sie ist unabhängig von jeder verstandesmäßigen Verarbeitung. Sie ist ganz einfach eine sinnliche Erfahrung des Gehirns mit sich selbst.
Um diesen Aspekt zu zeigen, wählte ich einen Satz von Michelangelo Buonarotti, in welchem er sagt, dass er einen Marmorblock fand, in dem er einen gefangenen Engel sah, und dass er ihn herausarbeitete, bis er ihn befreit hatte. Michelangelo schloss in dieses psychische Geschehen sowohl das Prinzip der äußeren und physischen Realität des Marmorblocks wie auch das Prinzip der inneren und seelischen Lust ein, welches in dem Engel verkörpert ist, den er im Marmor sah.
Wir können die Tatsache hinzufügen, dass Bildhauer zu sein und eine Skulptur zu machen die Absicht des Herausarbeitens hervorruft, welche für Michelangelo im Abheben und Entfernen des nicht zur Engelsgestalt gehörigen Marmors bestand. Diese Sichtweise des psychischen Geschehens fand gewiss Niederschlag in seinen Werken. Indem das psychische Geschehen als etwas beschrieben wird, das aus Kategorien unterschiedlicher Natur besteht, die nicht in einander aufgehen können, bleibt deutlich, dass, welche Schlussfolgerung man auch immer ableiten will, es keine andere Alternative gibt, als ein neues Element zu erschaffen, da das so beschriebene psychische Geschehen keine interne Logik besitzt, die seine Elemente miteinander verbinden und irgendeine Form, es zu denken, zulassen würde.
Diesen Typus einer Vorstellung von einem psychischen Geschehen und seine Komplexität zu erschaffen steht Husserls und Merleau Pontys Arbeit nahe.
Ich gehe vom Gehirn aus als Organ, das verantwortlich ist für die Erschaffung eines neuen Elements.
Wenn wir die Funktionen des Gehirns analysieren, sehen wir, dass Kreativität eine Konstante ist. Die Sinnesfunktionen können uns nicht die umfassende Realität des Beobachteten liefern. Nach Cricks Ansicht betrügen uns unsere Sinne die ganze Zeit.
Dasselbe gilt für das Gedächtnis und andere Funktionen des Gehirns. Schöpfungskraft ist also eine Grundfunktion des Gehirns und kein zufälliges Ereignis. Wie andere Funktionen des Gehirns sind auch diese in seiner Struktur enthalten und die meisten von ihnen sind uns unbekannt.
Hier schlage ich die Hypothese vor, dass wir die Kreativität des Gehirns nicht kennen, wir wissen nur, dass es sich um eine strukturelle Funktion handelt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte ist die Kreativität jedes einzelnen Menschen möglicherweise ursprünglich und einzigartig, aber wir sind noch weit entfernt davon, sie zu kennen.
Es ist auch möglich, dass die Wesensverwirklichung jedes Einzelnen jenseits des Bewusstseins erahnt wird, dass nicht alte Privilegien gefordert werden und dass die Menschen nichts fordern als ein Mensch sein zu dürfen. Ortega sagt, die Menschen wüssten nicht, was sie seien, und müssten es herausfinden.
Wir können nicht bei allgemeinen Kategorien bleiben. Wir werden ihren Zusammenklang erschaffen müssen und vielleicht beginnen wir bereits damit. Wir wollen nun das oben Gesagte zusammenfassen und ein wenig vertiefen.
Ich denke, es ist unerlässlich, über die Bedeutung des Wortes ‘Verwirklichung’ nachzudenken. Wir sagten, dass eine kollektive Mobilisierung für eine bestimmte Forderung nicht dasselbe ist wie die Notwendigkeit einer Wesensverwirklichung. Die Verwirklichung eines Menschen ist eine Erfahrung und ist auch ein Gefühl, eine kognitive und sinnliche Erfahrung, sie besitzt eine Qualität von Wahrheit und auch von Schönheit. Es handelt sich darum, dass es jemandem gelingt, etwas Innerliches mit etwas Äußerem der Welt in Beziehung zu setzen. Dies ist eine Erfahrung, die vielen Menschen widerfährt, aber nur wenige messen ihr Wert bei, sie verfolgen sie nur von weitem.
Es scheint so zu sein, dass die Leute, ohne es zu wissen, wollen, dass die Gesellschaft individuelle Erfahrungen in sich aufnimmt und respektiert. Dies hat nichts mit Ungleichheit zu tun. Die Massenbewegungen sind ebenfalls auf der Suche nach Schönheit und Wahrheit.
Die menschliche Wesensverwirklichung geschieht nicht durch den Erfolg, sondern in einer emotionalen Erfahrung. Diese Verwirklichung ist eine innere, sie steht neben Kunst und Kreativität. Die Schöpfungserfahrung tritt in Beziehung mit dem Konzept des menschlichen Wesens, der Idee, dass das Menschenwesen ein noch unbekanntes Wesen ist, es ist das einzige Wesen, dass sich fragt, was Sein bedeutet, und worin zuletzt der Sinn seiner Existenz besteht. Um ein Sein zu haben, muss man es entdecken.
Das Menschenwesen ist reine Zukunft, weil die Zukunft das ist, was immer gegenwärtig ist, und Zukunft und Pläne aus Schöpfung entstehen. Niemand ist befriedigt, wenn er etwas tut, was sich nicht wie seine Zukunft oder seine Schöpfung anfühlt.
Alle Kenntnisse und die Kunst lassen sich so als Erschaffen einer Beziehung zwischen etwas Innerem und etwas Äußerem verstehen. Diese Schöpfung bringt eine Zukunft hervor und zugleich ist sie reines Sein jener Person in einer subjektiven Erfahrung: Bewusstsein. Die Epistemologen wissen es: man erfasst niemals die Beziehung eines Dings zur Gesamtheit.
Was die Ungleichheit betrifft, so ist sie das, was Menschenmassen seit jeher mobilisiert hat. Wenn man sie zu überwinden versucht, strebt man nach Verwirklichung und nach kollektiver Mobilisierung von Menschen in großen Gruppen. Vor dem Erscheinen des Menschen gab es Raubtier, Räuber und Beute. Das Raubtier tötet und so wird das ökologische Gleichgewicht aufrechterhalten. Mit Entfaltung der menschlichen Kultur sieht sich der Mensch einem einzigartigen Raubtier gegenüber, nämlich dem anderen Menschen.
Menschliche Ungleichheit wurde mit Gewalt und Aggressivität aufrechterhalten. Es gibt einen, der einen überlegenen Status hat (Zauberer, Chef, usw.) und dieser erweckt bei dem, der das nicht hat, Neid und den Wunsch, wie dieser zu sein; den Wunsch, die Macht zu besitzen, die ersterem übertragen wurde. Bis heute hat sich dieses Gefühl in etwas Dauerhaftes verwandelt.
Ich stelle die Hypothese auf, dass derzeit, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, Privilegien getilgt werden. Dies ist das Ergebnis großer Veränderungen in unserem Arbeits- und Gesellschaftsleben. Es ändern sich die soziologischen, politischen, ökonomischen Kategorien. Alles, was man dem neidete, der mehr Macht besaß, verliert seine Geltung.
Zahlreich sind die Fälle, in denen jene, die als Objekte des Neids betrachtet wurden, nicht mehr als solche fungieren. Viele erzielten wirtschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Erfolg und scheinen dennoch nicht glücklich zu sein. Sie werden nicht als Beispiel von Wesensverwirklichung angesehen. Der materielle Erfolg zum Beispiel verliert zunehmend seinen Gehalt. Die Gesellschaften in ihrer Zusammensetzung ‘gleichen sich an’.
Sogar die Gestalt des Psychoanalytikers als derjenige, der ‘die Wahrheit besitzt’, verlor ihren Inhalt. In der Psychoanalyse gibt es – wie in allem – eine Tendenz zur Nivellierung.
Nachdem eine neue Betrachtungsweise alter Fragestellungen dargelegt wurde, wollen wir nun daran erinnern, dass Schöpfungskraft und Kunst eine Anziehungskraft auf Philosophen, Wissenschaftler, Psychoanalytiker und all jene ausüben, die sich dem Geheimnis der Funktionsweise des Gehirns genähert haben. Einer üblichen Praxis folgend, möchten wir, wie es unter Analytikern gewöhnlich geschieht, Freuds Gedanken zu dieser Frage nachlesen.
Sigmund Freud stürzte sich mit Kühnheit und Schneid auf dieses Feld und löste in vielerlei Aspekten eine Revolution aus. Er war ein sensibler und hochkultivierter Mensch, der mit Kunst und Wissenschaft seiner Zeit intensiv in Kontakt stand. Er war kein Theoretiker für Kunst und künstlerisches Schaffen, er wollte nur besser verstehen, wie seine Modelle und Theorien des Geistes funktionierten, wenn er sie auf künstlerisches Schaffen anwandte.
Ein Beispiel dafür finden wir in seinem Aufsatz ‘Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens", in welchem er Erklärungen erprobt, indem er die Konflikttheorie auf das Lustprinzip und das Realitätsprinzip und deren Schicksale anwendet.
Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine Versöhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann und seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben gewähren läßt. Er findet aber den Rückweg aus dieser Phantasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeiten gestaltet, die von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung zugelassen werden. (Freud, 1911, S. 230-238)
In ‘Der Moses des Michelangelo’ erklärt Freud die Beziehung zwischen Werk, Künstler und Betrachter, wobei er der Absicht des Künstlers einen wichtigen Platz zuweist.
Was uns so mächtig packt, kann nach meiner Auffassung doch nur die Absicht des Künstlers sein, insoferne es ihm gelungen ist, sie in dem Werke auszudrücken und von uns erfassen zu lassen. Ich weiß, daß es sich um kein bloß verständnismäßiges Erfassen handeln kann; es soll die Affektlage, die psychische Konstellation, welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung abgab, bei uns wieder hervorgerufen werden. (Freud, 1914, S. 172-201)
Freud ist sich bewusst, wie wichtig es ist, jene Funktionen zu betrachten, die in Zusammenhang stehen mit Kunst und künstlerischem Schaffen als etwas, was sich in einem besonderen psychischen Apparat und dessen Geschichte ereignet und andererseits diese Funktionen als Erbe jener Gattung zu betrachten, das in allen Menschen präsent und struktureller Teil des menschlichen Gehirns ist.
Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsersgleichen eine dem Dichten irgendwie verwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung derselben ließe uns hoffen, eine erste Aufklärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen. Und wirklich, dafür ist Aussicht vorhanden — die Dichter selbst lieben es ja, den Abstand zwischen ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern; sie versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke und daß der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde." (Freud, 1908, S. 213-223)
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass in allen Teilen der Welt die Anzahl der Künstler in den verschiedenen Zweigen der Kunst zunimmt, stets heben sie sich stärker ab, weil die Starrheit, die Formalität abnimmt und es mehr Freiheit gibt.
In der Musik tauchen beispielsweise ständig neue Musikgruppen auf und der Tanz entwickelt sich mit größerer Spontaneität. Künstlerische Ausdrucksformen, die sich in geschlossenen Räumen abspielen, verlagern sich auch auf die Straßen. Man strebt nach Entfaltung der Kreativität in Freiheit, das Individuum fühlt, dass das, was es erreicht, wahrhaftig ist, dass es ein Erzeugnis der Freiheit und der Schönheit ist.
Es ist eine intime Erfahrung, welche sich, im Unterschied zu den Forderungen der Massen, nicht im Außen abspielt. Wesensverwirklichung lässt sich nicht delegieren. Alle menschlichen Wesen sind einander gleich, weil jedes einzelne von ihnen in gleicher Weise davon abhängig ist, die Beziehung zwischen dem eigenen Inneren und der Welt zu finden.
Auch dies ist eine Erfahrung von Wahrheit, Freiheit und Schönheit.
Literatur
Freud, S. (1911). Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens. S.
GW, Bd. VIII, S. 230-238.
Freud, S. (1914). Der Moses des Michelangelo. In
GW, Bd. X, S. 172-20.
Freud, S. (1908). Der Dichter und das Phantasieren. In
GW, Bd. VII, S. 213-223.
Übersetzung: Susanne Buchner-Sabathy, Vienna.