Der Tod der "Hand": Terror, narzisstische Fragilität und psychosomatischer Zusammenbruch

Dr. Ricardo Jarast Kaplan
 

Wir werden nie begreifen, was wir im Moment der Geburt verloren haben. Aber was wir davon zu fassen vermögen, wird uns bis zum Ende begleiten.

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Winnicott sagt, die meisten seiner Ideen entstammten der Arbeit mit seinen Patienten und verdankten sich dem, was die Patienten ihn denken und empfinden ließen. Viele Patienten fragten sich ihr ganzes Leben lang, ob der Selbstmord für sie eine Lösung darstellen könne, das heißt also, ob es eine Lösung wäre, "den Körper in den Tod zu schicken, der die Psyche bereits ereilt hat". Selbstmord also als " Geste der Verzweiflung". Er fährt fort: " Ich verstehe jetzt zum ersten Mal, was meine schizophrene Patientin (die sich umbrachte) meinte, als sie sagte: »Alles, was ich von Ihnen will, ist, dass Sie mir helfen, aus dem richtigen Grund Selbstmord zu begehen anstatt aus dem falschen. « Es ist mir nicht gelungen, und sie brachte sich in dem verzweifelten Bemühen um, eine Lösung zu finden." Winnicotts Reflexionen sind schmerzlich. Seine Patientin hätte, so meint er, von ihm bestätigt bekommen müssen, dass sie bereits in früher Kindheit gestorben war. So hätte sie befähigt werden können, " den körperlichen Tod solange hinauszuzögern, bis das Alter seinen Tribut gefordert hätte". 

Für Winnicott ist die Angst vor dem Zusammenbruch  die Angst vor einem Zusammenbruch, der bereits erlebt wurde. Es ist die Furcht vor "ursprünglichen archaischen Seelenqualen", die zur Entwicklung einer Abwehrorganisation zwingt. Diese ursprüngliche Erfahrung der primitiven Seelenqualen kann nur dann zu Vergangenheit werden, wenn das Ich des Patienten in der Lage ist, sie in seine gegenwärtige Erfahrung aufzunehmen. Wenn der Patient dieses Paradox akzeptieren kann, steht ihm der Weg offen, seinen tiefen Schmerz in der Übertragung zu leben. Winnicott beschreibt verschiedene Formen "archaischer Seelenqualen": die Rückkehr zu einem nicht integrierten Zustand, ewiges Fallen, Verlust des Realitätssinns, Verlust der Fähigkeit zur Objektbezogenheit, Verlust der psychosomatischen Verschmelzung. 

El Eternauta und der Tod der "Hand"
Im Jahr 2007 ehrte die argentinische Nationalbibliothek in Buenos Aires Héctor Germán Oesterheld, der, ebenso wie seine Töchter, dreißig Jahre zuvor, während der Videla-Diktatur, entführt wurde und seither als "verschwunden" gilt.  Das Hauptwerk des Autors, El Eternauta, erschien erstmals 1957. Es handelt sich dabei um das wichtigste argentinische Comic, welches auch internationale Berühmtheit genießt. Mit einem hervorragenden Drehbuch erzählt Oesterheld von einigen Einwohnern von Buenos Aires, die Opfer einer zerstörerischen Invasion durch Außerirdische werden. 

"Mich faszinierte immer die Idee von Robinson Crusoe", erzählte Oesterheld. "Das Buch wurde mir geschenkt, als ich ein kleiner Junge war, ich muss es mehr als zwanzig Mal gelesen haben. El Eternauta war ursprünglich meine Version von Robinson. Die Einsamkeit eines Mannes, der umgeben und gefangen ist nicht vom Meer, sondern vom Tod. Und nicht der einsame Robinson, sondern ein Mann mit Familie und Freunden. Als Fortsetzungscomic wurde El Eternauta Woche für Woche weiterentwickelt. Es gab da diese eine Grundidee, aber die konkrete Realität jeder Episode veränderte die Grundidee beständig. Es tauchten Situationen und Personen auf, an die ich zu Beginn nicht gedacht hatte, wie die "Hand" und ihr Tod." 

Die Erzählkonstruktion von El Eternauta ist zirkular. Die Rundreise beginnt in einem Landhaus in Vicente López bei Buenos Aires. Eines schönen Abends spielt dort eine Gruppe von Freunden das Kartenspiel "Truco": Juan Salvo, Eigentümer einer kleinen Fabrik von Elektroprodukten, Favalli, Arzt und Universitätsprofessor, Polsky, Pensionist, und Lucas, Bankangestellter.  Anwesend sind auch Elena und Martita, Salvos Ehefrau und Tochter. Während der heiteren Kartenpartie beginnt es draußen unerwartet zu schneien, was in Buenos Aires sehr ungewöhnlich ist. Zudem ist es ein tödlicher Schnee: wer in Kontakt mit den fallenden Flocken kommt, stirbt sofort. Als die Spieler dessen gewahr werden, gibt es bereits viele Opfer. 

Favalli, der Archetyp von Geistesschärfe und Verstandeskraft, findet eine Möglichkeit, das Haus zu verlassen: mit Materialien, die er in Salvos Haus findet, bastelt er einen Isolieranzug. Salvo, "El Eternauta", ist der erste, der den Anzug verwendet und die Zerstörungen erkundet. Langsam entdecken Salvo und seine Freunde, dass der mörderische Schneefall mit einer Invasion von Außerirdischen zu tun hat. Die Invasoren sind die "Ellos" ["ellos" ist im Spanischen das Pronomen für die 3. Person Plural, "sie", Anm. d. Ü.). "Sie" sind nicht fassbar, werden niemals sichtbar. Zu greifen und zu sehen sind nur ihre Untertanen: die "Cascarudos"  [die "Dickschaligen", Kampf-Käfer], die  "Hombres-robot" ["Robotermenschen"], die "Gurbos" [riesige, zerstörerische Ungeheuer] und die  "Manos" ["Hände", eine menschenähnliche Spezies mit vielfingrigen Händen]. Die ersteren drei werden von den "Händen" gesteuert. Mittels eines aus vielen Tasten bestehenden Organs stoßen sie Wellen aus und übermitteln so ihre Befehle an die anderen Invasionswerkzeuge. 

Bei einem schwierigen nächtlichen Erkundungsgang trifft Juan Salvo andere Überlebende: den Arbeiter  Franco und einige Soldaten. Zivilisten und Soldaten bilden eine Widerstandsgruppe, um die Invasoren zu vertreiben. Salvos persönlicher und einsamer Weg wird zu einer kollektiven und solidarischen Aktion. Oesterhelds Idee ist es, über Defoes Original-Robinson hinauszugehen, indem eine ganze Gruppe von Protagonisten die Rolle des Helden übernimmt.Dieser kollektive Held kämpft mit den "Dickschaligen" auf der Avenida General Paz, einer Schnellstraße, die Buenos Aires ringförmig umgibt. Und dann in der Schlacht im Stadion des Fußballclubs River Plate. Später finden Salvo und Franco einen Pavillon, von dem ein starkes Leuchten ausgeht. In seinem Inneren lenkt eine "Hand" die Streitkräfte der Invasoren. Salvo und Franco geraten in Gefangenschaft, aber dann führen wechselvolle Begebenheiten dazu, dass sie die "Hand" entführen. So erfahren sie, dass der Herkunftsplanet der "Hände" durch "die Sie" erobert wurde. Wenn eine "Hand" ungehorsam ist, verspürt sie eine Angst, die ihre Terror-Drüse aktiviert. Dabei wird eine Substanz freigesetzt, die als tödliches Gift wirkt. Bevor die von Salvo und Franco entführte "Hand" stirbt, verrät sie ihnen die Absicht der Invasoren, die Menschen zu erobern, um sie dann zu versklaven. Als Favalli in einem U-Bahn-Tunnel neuerlich einer "Hand" begegnet, bietet er ihr – da er ja nun über die "Terror-Drüse" Bescheid weiß – die Stirn und weist sie auf ihre Schwäche, ihr Geheimnis hin. Meisterhaft gezeichnet ist nun die Veränderung in Gesichtsausdruck und Körperhaltung der "Hand". Der versteinerte Ausdruck narzisstischer Gefühle von Allmacht und Dominanz wandelt sich in Panik, Kontrollverlust und Zusammenbruch. Der Panzer von fanatischer Gewissheit bricht auf, die Haut löst sich und dann ertönt zum Abschied ein Wiegenlied. 

Freud, Arendt, Agamben und Browning
Können wir Psychoanalytiker mit Menschen in Kommunikation treten, die die Erfahrung des Grauens gemacht haben? Können wir ihren Zusammenbruch verhindern? 

In Das Unbehagen in der Kultur (1930) schrieb Freud:

"Wir mögen noch so sehr vor gewissen Situationen zurückschrecken, der des antiken  Galeerensklaven, des Bauern im 30jährigen Krieg, des Opfers der heiligen Inquisition, des Juden, der den Pogrom erwartet, es ist uns doch unmöglich, uns in  diese Personen einzufühlen, die Veränderungen zu erraten, die ursprüngliche Stumpfheit, allmähliche Abstumpfung, Einstellung der Erwartungen, gröbere und feinere Weisen der Narkotisierung in der Empfänglichkeit für Lust- und Unlustempfindungen herbeigeführt haben."

Nach Freud gibt es Grenzsituationen, wie die Konzentrationslager, in die es keine Einfühlung geben kann, wo also kein Kontakt zu dem hergestellt werden kann, was jemand erlebt hat, wo kein imaginäres Mitfühlen dessen möglich ist, was jemand erduldet hat. Diese Unmöglichkeit bildet nicht nur ein Hindernis für die Vermittlung des Erlebten, wie es viele Überlebende beschrieben haben, sondern lässt auch erkennen, was genau in diesem Universum zusammenbricht: nämlich das, was die Gemeinschaft mit anderen Menschen stiftet.

Zu diesem Zusammenbruch können wir uns einige Fragen stellen: 

1. Welcher Art von Vorstellung gehört der Zusammenbruch des Gemeinschaftsstiftenden in den Konzentrationslagern an? 

2. Woraus besteht diese Vorstellung für Opfer, die beabsichtigen, das Erlittene dem Denken, der Beschreibung und dem Zeugnis zugänglich zu machen?  

3. Müssen für das, was sich aus dem Zusammenbruch der Gemeinschaftlichkeit ergibt, Begrifflichkeiten wie "das Unmenschliche" oder "das Nicht-Menschliche" oder "das A-Humane" akzeptiert werden? Diese unterschiedlichen Nomenklaturen entwickelten sich in Theorienbildungen, die auf Hannah Arendt basieren, und die bestrebt sind, die Radikalität einer Lebenslage zu benennen, in der es einen Bruch mit der Kategorie des Menschlichen gibt. (Benslama)

Es gibt Theorien, welche meinen, dass das, was in den Konzentrationslagern stattfand, der Austreibung des Menschlichen aus dem Menschen gleichkam. Am weitesten ging hier Giorgio Agamben in seinem Essai Was von Auschwitz bleibt. Damit eine solche Austreibung möglich wäre, müsste sich die menschliche Identität so in einem Menschen befinden, als wäre er ein Ort. Die menschliche Identität müsste von diesem Ort vertrieben und nach außen gedrängt werden können.  Und doch verwendet man das Wort "ist",  wenn man sagt: ein Mensch ist ein Mensch. Was der Lokalisierung entgeht, ist ein Register, ist das, wogegen die äußerste Grausamkeit wütet. Wenn die Shoah für die Nationalsozialisten "die Lösung der Judenfrage" war, so nährte sich diese Sicht von einer Theorie, die auf der Vorstellung beruht, die Juden besäßen im Unterschied zu anderen Rassen keinen bestimmten Typus und könnten sich unter andere Völker mischen. Deshalb mussten sie, um fassbar zu werden,  in einem Körpertypus "fixiert" werden.  Der nationalsozialistische Wahn der Auslöschung liegt darin, dass eine imaginäre Reduktion in die Wirklichkeit geschleudert wurde: "der Jude" wurde nach einem Bild gemodelt, das nichts anderes war als das Negativ des Nazi, der man selbst war. 

Der Zeuge war der Gefahr der Auslöschung ausgesetzt, er überlebte und setzt sich nun der Erschütterung des Bezeugens aus. Das Bewahren seines psychischen Lebens kann ihn dazu verpflichten, den Affekt zu unterdrücken, zu verlagern, umzuwandeln. Gerade diese Vermittlungsbemühung macht das Zeugnis potentiell traumatisierend. Dies ist nicht nur der Schwierigkeit geschuldet, den anderen zu verstehen,  sondern auch dem Umstand, dass der Überlebende, indem er Zeugnis ablegt, in umgekehrter Form die Wirkung dessen empfängt, was er mitzuteilen hat, die Maßlosigkeit des Geschehenen.

Wie wird der Mensch zum Feind des Menschen und kann nach Jahrtausenden des zivilisatorischen Fortschritts seine Auslöschung zum höchsten Ideal erheben?

Für seine Feldstudie über das Reserve-Polizeibatallion 101 des Dritten Reichs führte der Historiker Christopher Browning zahlreiche Interviews mit Männern, welche monströse Verbrechen begangen haben. Er zeigt, dass das gemeinsame Merkmal dieser "ganz normalen Männer" – so auch der deutsche Titel seines Buchs –  der Wunsch ist, so zu sein wie die anderen, jener Gruppe zu ähneln, der man angehört.  Die Unfähigkeit, nein zu sagen, aus Angst vor dem Alleinsein. Um Widerstand gegen Gruppendruck geht es auch, wenn Hannah Arendt uns zu ihrer These der "Banalität des Bösen" (Eichmann in Jerusalem) führt, einer Banalität, die darin besteht, dass das Monster nicht grundsätzlich eine bösartige Persönlichkeit ist, sondern vor allem ein grauer Bürokrat, der durch die Vorteile manipuliert und verführt wird, die ihm seine dominierende Stellung verschafft.

Wenn ein Psychoanalytiker einen Menschen behandelt, der durch derartige extreme Erfahrungen geprägt ist, wie kann er solche Grenzerfahrungen begleiten? Indem er sein Menschsein annähert, wird der Psychoanalytiker nach einer neuerlichen Begegnung mit der psychischen Zeitlichkeit des Patienten suchen und nach einer psychischen Neuanpassung, welche dem Patienten eine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht. Der Psychoanalytiker wird danach streben, dass der Patient nicht völlig abgekapselt bleibt in dem Trauma, das alle Bereiche seines psychischen Lebens mit Bedeutung sättigt. 

Wenn wir Favallis Begegnung mit einer "Hand" als Metapher begreifen, können wir das Modell einer "Hand" als Kind konstruieren, das in sehr frühem Alter von zerstörerischen Ängsten heimgesucht wurde, einem Kind, das der mangelnden Sorge der Mutter mit strengem Selbsterhalt entgegentritt, welcher das Geheimnis seiner Zerbrechlichkeit verbirgt. Wenn die zerstörerische Leere in einer Krisensituation erneut auftritt, wird humanisierende Nähe nicht ertragen. Das klinische Problem besteht also darin, eine Technik der Annäherung zu entwickeln, welche in der Übertragung-Gegenübertragungs-Beziehung sicherere Brücken ausspannt. Es geht darum, zu versuchen, der gelebten Zeitlichkeit des Patienten Historizität zu geben, und dem Patienten zu helfen, die ihm eigene Geschichte wieder zu bewohnen (M.Viñar).

2018

"Wir müssen die Bevölkerung erschrecken, um die Märkte zu beruhigen", sagt ein Manager in einem Comic des spanischen Zeichners El Roto. Wir erleben eine Zeit, in der sich uns Die Ökonomie der Angst aufdrängt, wie der Journalist Joaquín Estefanía sagt.  Der tschechische Intellektuelle Ivan Klima schrieb: "Im Unterschied zu früheren Macht-Usurpatoren haben diese Machtstrukturen weder ein Gesicht noch eine Identität. Sie können durch Schläge oder Worte nicht verwundet werden. Ihre Macht ist vielleicht weniger auffällig, weniger offen deklariert, aber sie ist allgegenwärtig und hört nicht auf zu wachsen." 

Bibilographische Verweise
Dieser Artikel beruht auf einer Arbeit des Autors (Ricardo Jarast), die 2010 in Nummer 61 der Revista de Psicoanálisis de la APM (Madrid) und im Buch  Tiempos Difíciles, El siglo XXI y la responsabilidad del psicoanalista desselben Autors (Ed. Biebel, Buenos Aires, 2013) veröffentlicht wurde. 
    
Image: "El Eternauta" dibujo de Francisco Solano López.