Gewalt gegenüber der Erde / Gewalt gegenüber uns selbst
Dr. Donald B. Moss
Dr. Lindsay L. Clarkson, Dr. Lynne Zeavin, W. John Kress
Das Dorf, die Fenster, die Erde, Bäume, Gewalt nachhallt rund um den Globus in einem Strom von episodische Attacken.
Die Bäume
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass derzeit an die drei Milliarden Bäume die Erdoberfläche bedecken. Aber natürlich wachsen die Bäume nicht gleichmäßig über die Erde verteilt: nur wenige in den Wüstengebieten und dafür umso mehr in den Regenwäldern. Aber vorausgesetzt, dass die von den Wissenschaftlern geschätzte Zahl der Bäume auf unserem Planeten zutreffend ist, dann kommen gegenwärtig auf einen Baum im Durchschnitt 2.3 Menschen. Dieses Verhältnis stellte sich vor zwanzig Jahren noch ganz anders dar, als es nämlich auf unserem Planeten noch deutlich mehr Bäume gab als Menschen. Und das Zahlenverhältnis verschiebt sich momentan immer noch weiter zu gunsten der Menschen und zu ungunsten der Natur. Und daran wird sich mit Sicherheit in der absehbaren Zukunft auch nicht grundlegend etwas ändern. So können wir also davon ausgehen, dass es zukünftig immer noch mehr Menschen und immer weniger Bäume auf unserem Planeten geben wird. Und aus diesem Grunde blutet mir auch jedesmal das Herz, und ich verspüre eine tiefe Traurigkeit, wann immer ein weiterer Baum gefällt wird und für immer vom Antlitz unserer Erde verschwindet.
Ich konnte diese gegenüber den Bäumen verübte Gewalt überall, wo ich auf der Welt hingekommen bin, beobachten, ob dies nun in den Wäldern des Amazonas war oder entlang der amerikanischen Highways, aber auch bei mir zu Hause in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ich denke da beispielsweise an eine wunderschöne, fünfundsiebzig Fuß hohe Buche, die gleich um die Ecke von dem Haus, in dem ich mit meiner Familie wohne, ihren angestammten Platz hatte, und die mit ihren einhundert Jahren bis zu ihrem Gefälltwerden immer noch tagaus tagein in vollem Saft stand und dem Himmel entgegen wuchs. Aber irgendwie schien sie plötzlich dem sogenannten Fortschritt im Wege zu stehen, vielleicht einfach deswegen, weil gerade da, wo sie seit je her ihren Standort hatte, ein neues Haus hin gebaut werden sollte für eine neu in die Nachbarschaft gezogene Familie. Und so wurde der hundertjährigen Buche eben einfach der Garaus gemacht, und sie wurde kurzerhand in kleine Stücke zerschnitten, zu Sägemehl verarbeitet und abtransportiert. Dieser Baum, der schon so viel länger hier auf unserem Planeten existiert hat als diese eine neu zugezogene Familie, und auch als unsere gesamte Nachbarschaft hier mitsamt der ganzen Gemeinde darum herum, ist nun plötzlich ein für allemal verschwunden. Und er wird zweifelsohne auch bald gänzlich aus dem Gedächtnis verschwunden sein; er atmet nicht mehr, und kann uns Menschen somit auch nicht länger seine unschätzbare Fähigkeit zur Verfügung stellen, CO2 aus der Atmossphäre aufzunehmen; und er bietet auch keinen Schutz und spendet keinen Schatten mehr, um so auf seine ureigene Weise einen Beitrag zum Fortbestehen der Artenvielfalt zu leisten. Kurz gesagt, es gibt diesen Baum ganz einfach nicht mehr.
Mir fällt es in gewisser Hinsicht leichter zu verstehen, warum wir Menschen gegenüber unseren eigenen Artgenossen Gewalt ausüben, wohingegen ich nur schwer nachvollziehen kann, warum wir Menschen Gewalt anwenden gegenüber Lebewesen, die anderen Gattungen angehören. Was ist die Ursache für diese Gewalt, mit der wir beispielsweise gegen die Bäume vorgehen? Hat es womöglich etwas mit der Arroganz und Überheblichkeit zu tun, die unserer Spezies eigen ist? Und mit der Verachtung für all die übrigen Lebewesen in der Natur? Mit der Kurzsichtigkeit hinsichtlich unserer Zukunft und mit der Ignoranz für die Belange unserer Umwelt? Vermutlich sind all die hier angeführten Gründe und Ursachen in gewisser Weise tatsächlich mit dafür verantwortlich zu machen, doch unterhalb dieser im Außen zu beobachtenden Kräfte verbergen sich unter der Oberfläche in unserem eigenen Inneren auch noch andere Kräfte: es sind unsere eigenen inneren Konflikte, die entstehen im Widerstreit zwischen dem, was wir kontrollieren können und was nicht. Und vielleicht ist es genau dieses Gewahrsein, dass es Dinge gibt, die sich unserer Kontrolle entziehen, was uns dazu veranlasst und antreibt, dass wir Gewalt ausüben gegenüber eben jenen Dingen, von denen wir glauben, dass wir sie unter unsere Kontrolle bringen können. Während sich nunmehr die Erdatmosphäre immer weiter erwärmt, der Meeresspiegel ansteigt und die Klimabedingungen sich drastisch zuspitzen und verschlechtern, können wir schließlich nicht mehr länger umhin, uns einzugestehen, wie wenig Kontrolle wir doch über die Natur in Wirklichkeit haben, auch wenn uns natürlich niemand daran hindern kann, auch weiterhin ihre Bäume wahllos und nach Belieben zu zerstören. Wie viel Zeit muss wohl noch verstreichen, bis wir endlich gelernt haben werden, die Gewalt, die wir gegenüber der Natur ausüben, in Frage zu stellen?
Die Erde
Das Echo der Gewalt hallt heute rund um den Globus wider, was sich weltweit in einer Serie von mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Anschlägen manifestiert, z. B. auf Festivals, auf Markt- oder öffentlichen Plätzen, in Nachtclubs, ja sogar in Krankenhäusern. Dies führt dazu, dass sich in uns zunehmend ein Gefühl der Unsicherheit und der permanenten Bedrohung breit macht, ein Umstand, der unser Vertrauen in uns selbst und in die Welt, in der wir leben, allmählich immer mehr untergräbt und erschüttert. Die Auswirkungen davon zeigen sich deutlich in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise und der damit in Zusammenhang stehenden wachsenden Xenophobie. In Verbindung mit dem unerbittlichen Backbeat einer aufwiegelnden und egomanischen Rhetorik, wie sie etwa von Leuten wie Harold Trump systematisch praktiziert wird, baut sich ein Gewaltpotential auf, das sich schließlich in einem Meer von Erregung aufstaut, für das es dann keinen Container mehr zu geben scheint.
Gleichzeitig erleben wir aber heute auch die unsere natürliche Umwelt betreffende Krise als eine permanente Bedrohung, ahnen wir doch, dass wenn wir der fortwährenden, heimtückischen, ungehinderten und unkontrollierten Gewalt, die wir Menschen gegenüber der Erde verüben, nicht Einhalt gebieten, wir unweigerlich auf unseren Untergang zusteuern. Aber anstatt dass wir uns der Krise, in der wir uns momentan befinden, bewusst stellen, gehen wir vielmehr so damit um, dass wir sie verleugnen, möglicherweise ja auch aus dem Grunde, weil wir ihr tatsächliches Ausmaß verkennen. In ihrem Aufsatz “Schweigen ist das eigentliche Verbrechen”, in dem Hanna Segal die Weitergabe von Atomwaffen anprangert, macht sie sich Gedanken über die Schwierigkeiten, mit denen wir uns in Anbetracht der Krise unserer natürlichen Umwelt konfrontiert sehen.
Vor diesem Hintergrund und mit einem gesteigerten Gewahrsein von so etwas wie psychischer und körperlicher Unruhe, begebe ich mich auf eine Wanderung in Norwegen. Der Aufstieg, den ich zu bewältigen habe, bringt mich zu einer in den Berg gehauenen Steintreppe, die einen natürlichen Pfad bildet, der immer noch weiter den Hang hinauf ansteigt und schließlich immer näher an einen Wasserfall heran führt, der sich inmitten einer sanften Hügellandschaft ins Tal ergießt. Oben angelangt, bietet sich dem Blick des Betrachters in unmittelbarer Nähe eine gewaltige Naturkulisse aus Bergen und prachtvoll grünen Bäumen, aus Flüssen und Bächen; und dahinter, weiter in der Ferne, sind schneebedeckte Berggipfel zu sehen, obgleich wir uns mitten im Sommer befinden.
Beim Gehen habe ich das unabweisliche Gefühl, von der Erde gehalten zu werden. Die Erde lässt mich jetzt unmittelbar ihre Wirkmacht spüren, allwaltend in ihrem Bestehen auf sich selbst. Sie gewährt mir diesen Weg und gleichzeitig damit auch ein Restatement der Realität der Zeit und des Bodens, auf dem ich stehe; und genau diese unmittelbare Erfahrung gewährt mir dankenswerterweise Containment. In diesem Moment werde ich mir der Allgegenwart von Mutter Natur gewahr und all dem, was damit verbunden ist. In solch einem Augenblick, wo wir es mit unserem ganzen Sein erfahren, wissen wir, dass Containment ein primäres mütterliches Geschenk darstellt.
Und dann kommt mir die von John Kress gestellte Frage in den Sinn, warum wir der Erde überhaupt Gewalt antun. In ihrem Buch 'Die Erfindung der Natur', schreibt Andrea Wulf über die in Südamerika angestellten Forschungen von Alexander von Humboldt und über sein Studium der engen Verbindung zwischen allen Naturformen. Humboldt spricht in diesem Zusammenhang vom “Netz des Lebens”. Wie Kress, so war auch Humboldt - nur allerdings zwei Jahrhunderte früher - empört über das Fällen von Bäumen, und es verursachte ihm sogar Seelenqualen, denn er schien intuitiv gewusst zu haben, welcher Schaden der Erde durch die Entforstung zugefügt wird, und auch dass das unbändige Bedürfnis des Menschen, sich die Erde immer noch weiter untertan zu machen, anstatt in Harmonie mit ihr zu leben, uns Menschen am Ende einen hohen Preis kosten würde.
Die Erde ist eine Repräsentation unserer Innenwelt; man kann sagen, sie macht uns Zeit erfahrbar und hält für uns die Erkenntnis von Verlust und Sterblichkeit bereit. Vielleicht sind es ja gerade der sich daraus ergebende Hass und vor allem die Angst, die den Wunsch in uns wecken, diese Erde zu beherrschen, zu kontrollieren und zu zähmen - was im Endeffekt dann dazu führt, dass wir Menschen uns weigern, unseren Platz im “Netz des Lebens” einzunehmen und uns stattdessen taub und blind stellen, um nicht anerkennen zu müssen, dass es Grenzen gibt, dass unser Leben endlich ist, aber insbesondere auch dass wir abhängig sind – von der Erde (Mutter Natur) und ganz zu Beginn unseres Lebens von der mütterlichen Sphäre.
Die Erde kann ein gutes Objekt sein – so wie ich sie auf meiner Wanderung in Norwegen erlebt habe. Aber wehe uns, wenn uns die Sorge um das Objekt abhanden kommt, dann führt das unweigerlich zu einer von paranoiden Ängsten dominierten Seinsweise, wo jeder nur noch auf die eigene Sicherheit bedacht ist, sich hingegen anderen Menschen und Lebewesen gegenüber gleichgültig verhält, womit der allenthalben Ausbreitung von Destruktivität Tür und Tor geöffnet sind.
Das Fenster
Es gibt ein Fenster in meinem Behandlungszimmer, welches demjenigen, der hinaus schaut, die Aussicht frei gibt auf ein bewaldetes Stück Land, durch welches ein kleiner Wasserlauf fließt. Bei geöffnetem Fenster bilden das leise und besänftigende Murmeln des Baches, das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, der Gesang der Vögel und das von draußen kommende Spiel von Licht und Schatten einen natürlichen Bestandteil des analytischen Settings. Jeder einzelne meiner Patienten entwicklt seine ganz eigene Art und Weise, sich auf die aus der natürlichen Umwelt herrührende Hintergrundserfahrung einzustellen, d. h. sie je nach dem entweder auszublenden oder sich auf individuelle Weise auf sie einzulassen und sie sich somit nutzbar zu machen.
Bei unserer allerersten Begegnung sprach meine junge Patientin, die ich G. nennen möchte, eine Studentin in ihren Zwanzigern, über sich selbst als wäre sie eine Art von Roboter oder Automat, eine Maschine also, die man einfach nur richtig einstellen und regulieren muss, damit sie wieder funktioniert. Auch mich behandelte G. so, als wäre ich ein Roboter oder ein Automat. Es vermittelte sich mir der Eindruck, dass ich für sie eine Maschine war, deren Dienste sie in Anspruch zu nehmen gedachte, um von ihr wieder richtig einreguliert zu werden und fehlerhafte Aspekte ihrer selbst eliminiert zu bekommen. Zwar waren meiner Patientin gewisse psychologische Begrifflichkeiten für Gefühle durchaus geläufig, was ihr jedoch gänzlich zu fehlen schien, waren die dazugehörigen persönlichen Erfahrungen, um wirklich begreifen zu können, was die jeweiligen Gefühle für sie bedeuten. Wenn G. über “Gefühle” sprach, dann vermittelte sich mir der Eindruck, als würde sie sich dabei nicht auf immaterielle Gefühlszustände und Empfindungen, i. e. auf eine verkörperte Erfahrung beziehen, sondern vielmehr auf so etwas wie metallene und schwere Gegenstände, die man je nach dem verschiebt und hin und her bzw. vor und zurück bewegt. Es kostete mich ein nicht geringes Maß an Mühe und Arbeit, um schließlich selbst dahin zu gelangen, der Patientin mit der menschlichen Empathie begegnen zu können, zu der ich bei anderen Patienten für gewöhnlich fähig bin.
G. zeigte sich entweder verständnislos oder auch herablassend mir gegenüber, sobald ich den Versuch unternahm, ihre verbalen Äußerungen auf eine umfassendere Weise zu verstehen und zu deuten, anstatt einfach nur - wie es ihrer Vorstellung wohl eher entsprochen hätte - auf ihre direkten Fragen einfach nur sachlich zu antworten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt bemerkte ich dann allerdings bei ihr gelegentlich so etwas wie einen Anflug von menschlicher Wärme als Reaktion auf etwas, das ich zu ihr sagte und worin ich ihr zu verstehen gegeben hatte, dass ich ihre Zurückhaltung und Vorsicht, mir irgend etwas von ihrer Lebendigkeit zu zeigen und mich daran teilhaben zu lassen, verstehen könne, weil sie dies vermutlich als zu gefährlich erleben würde.
Als G. dann eines Tages zu ihrer Sitzung kam, wirkte sie auf mich ungewöhnlich traurig. Und es war genau an diesem Tag, als ihr dann auf einmal auffiel, dass in meinem Behandlungszimmer ein Blumentopf mit einer Orchidee darin stand. Die Patientin fand, dass die Orchidee eine 'warme Farbe' habe. Und was für mich dann völlig unerwartet kam, schaute sich die Patientin noch weiter neugierig im Raum um, wobei sie zum ersten Mal zu bemerken schien, dass es da auch noch andere Pflanzen gab. Schließlich meinte sie, sie sei überzeugt davon, dass ich gewiss sehr sorgfältig darüber nachdenken würde, welche Umgebung für meine Patienten gut und förderlich bzw. zuträglich sei und dann auch, welche Wirkung die Umgebung auf meine Patienten habe. Sie gab mir aber auch zu verstehen, dass das, worüber wir soeben sprachen, ein heikles Thema für sie sei, und sie sich deswegen jetzt in eine schwierige Situation hinein begeben habe. Als sie daraufhin noch aus dem Fenster hinaus schaute, machte sie eine Bemerkung zu einem Stieglitz, der sich dort draußen auf dem Balkongeländer niedergelassen hatte. Sie sagte mir, dass sie Vögel liebe. Im Anschluss daran gestand sie mir, dass sie zuhause einen Hamster als Haustier halte, dass sie sich aber immerfort Sorgen darüber machen würde, dem Hamster nicht genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen zu lassen – das heißt, sie habe immerzu Angst, ihn zu vernachlässigen. Das Tier habe in seinem Käfig zwar ein rotierendes Hamsterrad, in dem es ja immerhin nach Belieben und Bedarf herum rennen und sich Bewegung verschaffen könne, und dennoch, sie selber biete dem Hamster kaum je Anregung oder Stimulation; d. h. sie biete dem Hamster nichts, was für ihn irgendwie interessant und anregend sein könnte. Aber was noch viel schlimmer sei, sagte sie dann, dass sie bisweilen Angst habe zu vergessen, den Hamster zu füttern, und dass er dann sterbe.
Vor dieser denkwürdigen Sitzung hatte ich immer das Empfinden gehabt, dass sie gar nie, oder zumindest nur augenblicksweise, wahrgenommen hatte, dass es in mir, in meinem Behandlungszimmer, oder auch in ihr selber, überhaupt so etwas wie Leben gab. Aber an diesem Tag in dieser spezifischen Sitzung wurde sie sich gewahr - ja ich denke, sie konnte diese Wahrnehmung in gewisser Hinsicht sogar in sich hinein nehmen - dass es so etwas wie “Andersheit” gibt, dass es so etwas wie Aufmerksamkeit meinerseits meinen “Patienten” gegenüber gibt. Auch wenn sie sich vielleicht noch nicht so ganz eingestehen konnte, dass diese Aufmerksamkeit meinerseits auch ganz speziell für sie da ist, so trat ihr doch immerhin die Möglichkeit einer Mutter ins Bewusstsein, die eben nicht vergisst, ihre Schutzbefohlenen bzw. ihre Kinder zu füttern und ihnen wohlwollende und liebevolle Aufmerksamkeit zu schenken. Als sie wieder einen förmlicheren Ton anschlug, sagte mir G. dann noch, dass sie einmal gehört habe, dass “das Gehen inmitten von grünen Landschaften, eine Depression mindern” könne. Tatsächlich fühle sie sich, wie sie hinzufügte, stets besser, wenn sie sich draußen im Freien aufhalte, und aus diesem Grunde habe sie auch so große Angst davor, sie könne irgendwann einmal gezwungen sein, ihr Leben in einem kleinen dunklen, abgeschlossenen Raum zu verbringen, d. h. in irgend einem Appartement, wie sie es sich bisweilen für ihre Zukunft ausmalte. Mein Eindruck war, dass die Patientin zu Anfang der Sitzung ein Gefühl der Wärme erlebte, um dann im späteren Verlauf, als sie wieder in einen förmlicheren Ton verfiel, sich erneut abzuschotten und sich in den dunklen Raum, von dem sie gesprochen hatte, zurück zu ziehen.
G.'s ursprüngliche Blindheit und Unempfindlichkeit gegenüber der natürlichen Umwelt kann meiner Ansicht nach als eine Form von Überlebensstrategie angesehen werden, bei der sie sich selbst Gewalt antun musste. Ich stelle mir vor, dass sie, um in einer einst schrecklichen Situation physisch zu überleben, eine bestimmte Fähigkeit in sich außer Kraft setzen musste, und zwar die Fähigkeit, sich des Bedürfnisses nach einer lebendigen Umwelt gewahr zu sein, und dass sie infolgedessen seelisch zu einer autistischen Lösung hatte Zuflucht nehmen müssen. Was auf den ersten Blick wie Unaufmerksamkeit und Herzlosigkeit der natürlichen Umwelt gegenüber erscheint, stellt sich dann bei näherer Betrachtung als das Ergebnis einer unerbittlichen Attacke auf all das heraus, was als sinnvolle Verbundenheit erlebt werden könnte. Die Vorstellung vom Verhungern des im Käfig eingesperrten Roboter-Hamsters lässt auf eine bei der Patientin unterschwellig vorhandene Grausamkeit schließen, die meiner Ansicht nach für ihre innere Verarmung und Verzweiflung verantwortlich war. Die Art und Weise, wie sie mit dem Hamster umging, legt sowohl eine Identifikation mit einem mörderischen Objekt nahe, lässt aber gleichzeitig auch auf eine Identifikation mit der hilflosen Kreatur schließen, die hilflos und auf Gedeih und Verderb einer solch grausamen Betreuungsperson ausgeliefert ist. Es war dann für G. allerdings immer noch sicherer, das Leben und die Andersheit in den Pflanzen und Vögeln wahr zu nehmen, als sich an mich als einen anderen Menschen zu wenden, der jetzt unmittelbar für sie da war und dem sie vertrauen konnte. Und dennoch offenbarte sich meiner Ansicht nach in dieser in der Patientin neu erwachten Wahrnehmung eine Tendenz hin zu dem Wunsch nach mehr Kontakt und innerem Wachstum.
Das Dorf
Ich wurde in dem Glauben aufgezogen, dass ich einmal ein für meine Spezies typisches Tier werden würde, das die Welt in drei Kategorien einteilt: zum einen wären da diejenigen Dinge bzw. Objekte, die ich liebe und beschütze; und zum anderen diejenigen Dinge, die ich dazu benutze, dass sie uns ernähren und ein Dach über dem Kopf gewährleisten; und darüber hinaus gäbe es noch jene unzähligen Dinge – d. h., alles, was es sonst noch so gibt – mit denen ich kaum je in Berührung komme und die mir infolgedessen relativ gleichgültig sind.
Der einzige wesentliche Unterschied zwischen mir und den anderen Tieren auf dieser Welt besteht darin, dass ich im Gegensatz zu ihnen über eine überlegene Vorstellungs- und Einbildungskraft verfüge. Im Unterschied zu den übrigen Tieren habe ich nämlich die Fähigkeit - und nutze diese auch - dass ich mir Dinge vorstellen kann, die gar nicht da sind, und deren Existenz mir durch die Wahrnehmung meiner Sinne nicht bestätigt wird.
Da ich mir also sowohl das Mögliche als auch das Unmögliche vorstellen kann, ist meine innere Welt - anders als die Welt der anderen Tiere um mich herum - stets von einer Vielzahl von “Was Wenns?” bevölkert. Wie sich heraus stellte, war das wichtigste von all diesen “Was Wenns” das folgende: “Was wenn ich es wäre?” Dieses spezifische “Was wenn” - diese in der Vorstellung evozierte Empathie – ist die Vorbedingung und Voraussetzung für mein moralisches Bewusstsein.
Wesentlich für die Art und Weise, wie ich aufwuchs und aufgezogen wurde, ist, dass diese in meiner Vorstellung erlebte Empathie – dieses nachempfundene und stellvertretende Mitfühlen mit dem Schmerz der Anderen – nicht nur eine notwendige und unabdingbare, sondern auch eine hinreichende Bedingung dafür ist, um ein moralisches Bewusstsein zu haben.
Doch nun wollen wir uns einmal ansehen, wie diese Struktur funktioniert: Um unserer Hündin Ruby die dreckigen Pfoten abzuwischen, fange ich sie an der Haustür ab, halte sie fest und schnappe mir eines ihrer Beine. Mir wird jedes Mal von Neuem bewusst, wie winzig und fragil doch die Knochen ihrer Vorderbeine sind. Und ich frage mich dann auch jedesmal von Neuem: Was, wenn ich diese Knochen brechen würde?
Die bloße Vorstellung davon verursacht mir Übelkeit. Ich weiß, ich werde das in Wirklichkeit nie tun. Ruby gehört ja zu derjenigen Kategorie von Objekten, die ich liebe und beschütze.
Und dann geht es ans gemeinsame Essen. Für jeden von uns gibt es für gewöhnlich zum Essen ein Stück Fleisch von der Kuh, vom Schwein oder vom Huhn. Diese Tiere gehören zu derjenigen Kategorie von Objekten, die für mich zu gebrauchen ich das Recht habe, und deren Tod ich quasi indirekt anordnen und in Auftrag geben darf, um damit unseren Hunger zu stillen.
Wenn ich dann nach dem Essen satt bin, lese ich die Zeitung.
Ich lese über einen dem Tod geweihten fünfjährigen Jungen aus Aleppo – einer Stadt, die von Trinkwasser, medizinischer Versorgung und von Nahrung komplett abgeschnitten ist – eine Stadt, aus der man weder heraus, noch in die man hinein kommen kann. Ich lese über eine neuerliche Überschwemmung in Louisiana, über einen 30.000 Hektar großen Flächenbrand in der Nähe von San Bernadino, und über das in den letzten Jahren erfolgte Aussterben von sechs Raubvogelarten in der Provence.
Mich erfasst ein Schauder, während ich lese. Ich zeige die Zeitungsartikel allen, die sich gerade zufällig in meiner Nähe aufhalten. Und ich schicke sie auch einigen Leuten, die weiter weg wohnen.
ich selber bin nicht unmittelbar an diesen Ereignissen beteiligt, ja auch nicht einmal mittelbar.
Das innere Erschaudern, das Hinweisen auf die Zeitungsartikel, ihr Versenden an unterschiedliche Leute und das Diskutieren darüber – darauf beschränkt sich im Großen und Ganzen meine diesbezügliche Aktivität, und darauf beschränkt sich schließlich auch mein Kontakt mit diesen unheilvollen und extremen Ereignissen.
Meine empathische Imagination ist aktiviert: “Was, wenn ich der Junge aus Aleppo wäre, oder aber wenn der Junge mein Junge wäre?”; “Was, wenn ich mein Zuhause infolge einer Überschwemmung verlieren würde?”; “Was, wenn wir es wären, die kurz vor der Ausrottung stehen?”
In der folgenden Reihenfolge – lieben, essen, lesen – lebe ich in präziser Übereinstimmung mit dem, was für mich und mein Leben vorgesehen war, als ich aufwuchs.
Und wie wuchs ich auf?
Ich wuchs als Bewohner eines kleinen Dorfes auf; und meine einzige wirkliche Verpflichtung und die an mich gerichtete Erwartung bestand darin, dem Fortbestand und Zusammenhalt dieser unserer Dorfgemeinschaft zu dienen.
Es ist diese Dorfmentalität, die dafür verantwortlich ist, dass all die menschlichen Begierden sanktioniert und frei gesetzt werden, die dann die Erde plündern, die unterschiedlichen Lebewesen und Lebensformen auf dieser Erde zerstören und ihre Menschen abschlachten.
Diese Dorfmentalität – meine Dorfmentalität – ist tödlich, ihre festgelegten und unverrückbaren Kategorien sind zerstörerisch und zutiefst destruktiv.
Meine Kinder ziehen weg aus dem Dorf. Sie haben die Nase voll von dieser Dorfmentalität und wollen sie nicht länger dulden und so schnell wie möglich hinter sich lassen.
-Donald Moss (Das Dorf)
-Lindsay L. Clarkson (Das Fenster)
-Lynne Zeavin (Die Erde)
-W. John Kress (Die Bäume)
Aus dem Englischen übersetzt von M. A. Luitgard Feiks und Juergen Muck, Nuertingen am Neckar.