Trauma und das Schicksal der Nationen

Dr. Robert Lindsay Pyles
 

Es ist nichts Ungewöhnliches, dass das Schicksal von Nationen und Individuen von einem extrem traumatischen Ereignis geprägt ist. Nicht selten hinterlässt ein solches traumatisches Ereignis sowohl im

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                          Trauma und das Schicksal der Nationen

                                         Autor: Bob Pyles   

    Es ist nichts Ungewöhnliches, dass das Schicksal von Nationen und Individuen von einem extrem traumatischen Ereignis geprägt ist. Nicht selten hinterlässt ein solches traumatisches Ereignis sowohl im Fall eines Individuums als auch im Fall einer ganzen Nation ein überwältigendes und persistierendes Gefühl der Demütigung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Nicht nur die unmittelbare Erfahrung des eigentlichen traumatischen Ereignisses, sondern auch die nachfolgenden Versuche, dieses Trauma zu bewältigen und zu verarbeiten, werden schließlich zu einem integralen Bestandteil des nationalen Charakters bzw. des Charakters der jeweiligen Person.

    Am 7. September des Jahres 1941 haben japanische Kampfflugzeuge ohne vorherige Kriegserklärung Pearl Harbor angegriffen und im Zuge dieser Militäraktion die US-Pazifikflotte zu großen Teilen zerstört. Präsident Franklin Roosevelt hat später in seiner Ansprache an das amerikanische Volk den Tag, an dem dieser “heimtückische” Angriff stattfand, als “Tag der Ehrlosigkeit” bezeichnet, der als solcher “in die Geschichte eingehen wird”.   

    Mit ihrer Militäraktion verfolgten die Japaner zwei Ziele: zum einen die Zerstörung der amerikanischen Militärmacht im Pazifik; aber zum anderen ging es ihnen in der Hauptsache darum, den Willen des amerikanischen Volkes durch den mit einer überraschenden, überwältigenden und verheerenden Wucht ausgeführten Überfall zu brechen. Was die Japaner dann allerdings tatsächlich mit ihrem Angriff bewirkten, entsprach am Ende wohl doch nicht dem, was sie sich ursprünglich vorgestellt und intendiert hatten. Als die Japaner nach dem Angriff realisieren mussten, dass sie die amerikanischen Flugzeugträger verfehlt hatten, soll der Flottenkommandant Nagumo folgende Äußerung gemacht haben: “Ich fürchte alles, was wir erreicht haben, ist, dass wir einen schlafenden Riesen geweckt und ihn mit einem furchtbaren Vorsatz erfüllt haben.”     

    In der Geschichte einer jeden Nation gibt es nur relativ wenige außergewöhnliche Ereignisse, die es wirklich verdienen als Wendepunkte ihrer Geschichte bezeichnet zu werden, und die dann in der Folge das ganze Volk und dessen nationalen Charakter maßgeblich und nachhaltig bestimmen und prägen. Im Fall der Vereinigten Staaten sind solch prägende Ereignisse, neben dem von Pearl Harbor, die Revolution von 1776 und die einige Zeit später im Jahr 1787 erfolgte Unterzeichnung der Amerikanischen Verfassung, der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, welcher mehr Menschenleben gefordert hat als alle anderen US-Kriege zusammen genommen, und dann eben Pearl Harbor im Jahr 1941.   

    Und dann kam der 11. September im Jahr 2001.   
        
    Die schrecklichen Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in Washington D.C. lassen oberflächlich betrachtet eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Angriff auf Pearl Harbor erkennen. Beide Angriffe erfolgten ohne jedwede Vorwarnung und mit unvorstellbar heftiger Gewalt. Beide forderten enorme Verluste an Menschenleben, und beide schockierten die gesamte Nation. Aber hier endet auch schon der Vergleich.

    Der militärische Angriff der Japaner auf Pearl Harbor kam quasi einer offiziellen Kriegserklärung gleich. Die japanische Regierung fühlte sich immerhin in gewisser Hinsicht verpflichtet, sich an die von den zivilisierten Nationen ausgehandelten und vereinbarten Rechtsgrundsätze und Regeln der Kriegsführung zu halten. Die militärische Attacke der Japaner war ausschließlich gegen Soldaten bzw. Armeeangehörige und Kriegsgerät gerichtet. Der professionell ausgeführte Angriff war politisch und strategisch motiviert. So seltsam es sich vielleicht auch anhören mag, und so schockierend die Auswirkungen auch waren, man hatte nicht den Eindruck, dass der Angriff gegen Personen gerichtet war sondern gegen die Nation; auch schien es keine durch Hass motivierte Militäraktion gewesen zu sein.    

    Ganz im Gegensatz dazu handelte es sich bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 um einen vorsätzlich barbarischen Akt, der direkt gegen die Zivilbevölkerung gerichtet war. Diese Terroranschläge von New York und Washington gehören meiner Ansicht nach in die gleiche Kategorie wie die in Bosnien, während des Holocaust, und während des kambodschanischen Bürgerkriegs verübten Verbrechen, und eben nicht in die Kategorie von Pearl Harbor. Erstgenannte sind durch Rassenhass motivierte Verbrechen, deren deklariertes Ziel die “ethnische Säuberung” ist. Ihr Ziel ist also der Genozid – oder zumindest, den Lebenswillen eines ganzen Volkes lahm zu legen bzw. zu brechen.       

    In der Zeit unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September, als die Menschen noch dabei waren, sich vom ersten überwältigenden Schock zu erholen, konnten sich viele in ihrer Fassungslosigkeit nur immer wieder die gleichen Fragen stellen: “Warum hassen sie uns so sehr?” oder ”Wie bringt es jemand fertig, so viele unschuldige Menschen zu töten?” Dies sind  dringliche Fragen, auf die führende Politiker, Psychoanalytiker und andere Experten versuchen sollten, in gemeinsamer Kooperation Antworten zu finden.  

    Was für psychologische Kräfte müssen wohl am Werk sein, um ein geistiges Klima zu schaffen, wo das Individuum oder eine ganze Gruppe dann am Ende sogar dazu fähig ist, auf die wesentlichsten Prinzipien der Menschlichkeit und die grundlegenden Werte jeglichen zivilen Zusammenlebens zu verzichten und Massenmorde zu begehen. Es ist wohl ohne Zweifel so, dass bei der Beantwortung dieser Frage ein erweitertes und vertieftes Verständnis von gruppen-dynamischen Prozessen unerlässlich ist. In seinem grundlegenden Werk “Massenpsychologie und Ich-Analyse” von 1921 schrieb Sigmund Freud darüber, welche Faktoren für den Zusammenhalt der Gruppe ausschlagebend sind. Seiner Ansicht nach bedarf es einer führenden Idee bzw. eines Glaubenssystems oder eines charismatischen Führers, oder eben beides zusammen. Freud und viele andere haben darauf hingewiesen, dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, insbesondere wenn diese auf bedingunglose Gefolgschaft angelegt ist, die Suspendierung der eigenen Urteilsfähigkeit der Gruppenmitglieder zur Bedingung hat. Man kann demnach sagen, dass die individuelle Identität des Einzelnen zugunsten der Gruppenidentität aufgegeben wird.  

    Die Mitgliedschaft in einer auf einem rigiden, zentralen Glaubenssystem beruhenden Gruppe erfordert somit vom Einzelnen, die gewöhnliche Fähigkeit des Ich, die Realität rational ein zu schätzen, außer Kraft zu setzen. Man könnte in psychoanalytischer Terminologie sagen, dass dies gleichbedeutend ist mit einer Regression auf die primitiven Abwehrmechanismen des Ich – wie etwa Spaltung, Projektion, Verleugnung und Entstellung. In einer solchermaßen strukturierten Gruppe - Bion hätte vielleicht von einer “Grundbedürfnisgruppe” gesprochen – sind Paranoia bzw. systematisierter Wahn und Isolationismus vorherrschend. Die Gruppe hat hauptsächlich die Funktion, eine grundsätzliche Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen “Ich und Nicht-ich” zu treffen, das heißt, zwischen denjenigen, die sind wie ich (sie gehören zu meiner Gruppe) und denjenigen, die nicht sind wie ich (all die übrigen). Die psychische Funktionsweise eines solchen Gruppencharakters muss als hochgradig narzisstisch eingeschätzt werden.           

    Religiöse Gruppierungen oder Glaubensgemeinschaften repräsentieren einen bestimmten gruppen-dynamischen Aspekt. Diese Gruppen stellen als solche für gewöhnlich keine wirkliche Bedrohung für die Allgemeinheit dar, denn obzwar jede Religion ihr ganz eigenes und spezifisches Glaubenssystem hat, hat die jeweilige religiöse Gruppe in der Regel dennoch ihr Gefühl der Verbundenheit mit, und ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu, der übrigen Menschheit nicht eingebüßt. Die fünf großen Religionen, das heißt: Christentum, Judentum, Buddhismus, Hinduismus und Islamismus, sie alle haben ihre eigenen Lehr- und Glaubenssätze hinsichtlich eines friedlichen Miteinanders sowie der Toleranz gegenüber anderen Religionen und Kulturen.   

    Bei religiös-fundamentalistischen Gruppierungen, wie etwa im Fall von Al-Kaida, sind wir hingegen mit einem völlig anders gearteten Phänomen konfrontiert. Man kann sagen, dass die jeweiligen Glaubenssysteme solcher fundamentalistischer Gruppen paradoxerweise mehr miteinander gemeinsam haben, als mit der Hauptreligion, von der sie sich ursprünglich herleiten bzw. von der sie eine Abspaltung sind. Diese Gruppierungen sind in der Regel von dem Gedanken der Rückkehr in eine glorreiche Vergangenheit besessen; und sie verurteilen das moderne Leben als korrupt und verdorben. (Die aktuell zu beobachtenden Versuche, die Uhr um tausend Jahre zurück zu drehen, scheinen in dem tief verwurzelten Wunsch zu gründen, zu der Blütezeit der muslimischen Vormachtstellung zurück zu kehren.) Die Anhänger solcher fundamentalistischer Gruppen haben das Gefühl, dass die kulturelle und nationale Gruppe, der sie angehören, verraten und erniedrigt worden ist, und nun müssen sie mit aller Gewalt darauf bestehen, ihre Ehre zurück zu fordern, indem sie nun ihrerseits andere erniedrigen. Ökonomisch und politisch fühlen sie sich meist völlig ohnmächtig.        
        
    Im Zweiten Weltkrieg mussten 6 Millionen Juden ihr Leben lassen, und darüber hinaus schätzungsweise 50 Millionen weitere Menschen. In Bosnien waren es ungefähr 50.000 Menschen, die starben. Und es kann sich wieder ereignen. Immer wieder. Die Gefahr ist noch lange nicht gebannt und stellt auch weiterhin eine eindeutige und unmittelbare Bedrohung für die Zukunft dar. Wenn das Individuum oder die Gruppe das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit unreflektiert lässt und nicht hinterfragt, was im Wesentlichen einer narzisstischen Regression entspricht, dann führt dies direkt dazu, dass das Töten des “Anderern” gerechtfertigt und sanktioniert wird.     

    Das Funktionieren von solchen fundamentalistischen Gruppen basiert auf den primitivsten Abwehrmechanismen des Ich: Hass und Argwohn gegenüber anderen, Intoleranz, Exklusivität, Isolation und blinde Unterwerfung unter das eigene Glaubenssystem als der alleinigen Wahrheit. Dies sind die besonderen Charakteristika, die diese Gruppen auszeichnen. Und innerhalb solcher Rahmenbedingungen ist unabhängiges Denken selbstredend ausgeschlossen. Im Fall eines Individuums würden wir vielleicht von einer vorwiegend auf psychotischen Mechanismen basierenden Denkweise sprechen, i. e., von einer zutiefst narzisstischen Charakterstruktur. Nun gibt es allerdings keine vergleichbaren Konzeptualisierungen, die sich auf gruppen-dynamischen Prozesse anwenden ließen. Soviel lässt sich jedoch sagen: es gibt so etwas wie ein Grandiositätsgefühl im Sinne einer Verschmelzung mit Gott und zudem die unerschütterliche Überzeugung, dass alles, was man tut, dadurch gerechtfertigt ist, dass es den Willen Gottes erfüllt. Die Menschheitsgeschichte hat uns gezeigt, dass das Töten aus politischen Beweggründen an sich schon furchtbar genug sein kann; sie hat uns aber auch gezeigt, dass das Töten zur Ehre und im Namen Gottes bisweilen zu so unvorstellbarer Brutalität und grenzenloser Barbarei geführt hat, dass es jegliches menschliche Maß übersteigt.        

    Dies bringt uns nun zu dem ganz wesentlichen Element, das jeder Greueltat und jedem Massaker ausnahmslos zu Grunde liegt – nämlich dem Bedürfnis, den anderen zu de-humanisieren. Ich selbst bin mit diesem Phänomen zum ersten Mal während meiner Zeit als Lieutenant Commander im Vietnamkrieg in Berührung gekommen. Als diensthabender Militärpsychiater gehörte es zu meinem Aufgabenbereich, junge Marinesoldaten zu behandeln, die häufig noch zwei Tage zuvor ihren Dienst an der Front versehen hatten. Viele dieser jungen Männer, die meist noch im Teenageralter waren oder gerade mal Anfang zwanzig, waren oftmals in schwere Kampfhandlungen verwickelt gewesen und hatten mit ansehen müssen, wie ihre Freunde und Kameraden unter jämmerlichen Umständen zu Tode kamen und starben oder übel zugerichtet und verstümmelt wurden. Was ich von ihnen zu hören bekam waren häufig Beschreibungen von alptraumhaften Situationen – der Dschungel, der unsichtbare Feind, die beständig lauernde Todesgefahr. Jeder, irgend ein älterer Dorfbewohner, oder vielleicht ein neunjähriger Junge, konnte – und oftmals war es tatsächlich auch so – eine Handgranate unter seiner Kleidung versteckt haben.     

    Um mit der Situation irgendwie fertig zu werden, waren für diese jungen Soldaten früher oder später alle Vietnamesen Schlitzaugen, die sie je nachdem “gooks”, “slants” oder “dinks” nannten. Sie als solche zu bezeichnen und anzusehen, also als “Schlitzaugen”, machte es den jungen Männern dann in gewisser Hinsicht leichter, sie zu töten. Diese amerikanischen Jungs wären außerstande gewesen, einen vietnamesischen Teenager zu töten, der sie ja immerhin selbst hätten sein können, oder vielleicht ihr jüngerer Bruder. Aber einen “gook”, den konnten sie töten. Und sie konnten auch über ein Dorf einen Feuerteppich ausbreiten und sich erst später diesbezügliche Fragen stellen, was allerdings selten genug geschah. Aber es kam dennoch vor. Und manchmal wurden sie von Schuldgefühlen eingeholt – manchmal aber auch nicht.     

    Wenn es gelingt, einen wesentlichen Aspekt eines bestimmten Problems zu diagnostizieren, dann kann uns dies vielleicht auch eine Idee für einen möglichen Lösungsansatz liefern. Ein Glaubenssystem, wie es von den Terroristen ausnahmslos vertreten und verfochten wird, basiert auf dem psychischen Mechanismus der Spaltung, das heißt, der Trennung zwischen dem grandiosen Selbst und dem verleumdeten und zurückgewiesenen Selbst. Dies kann aber nur insofern funktionieren, als dass die Menschen islamischen Glaubens in Isolation vom Rest der Welt und in Unkenntnis gehalten werden. Wenn also die soeben gestellte Diagnose stimmt, dann muss das von uns angestrebte Langzeitziel Inklusion, Dialog und gegenseitiger Austausch sein. Dies wäre eine Strategie, die auf soliden und vernünftigen politischen, psychologischen und sozialen Zielen aufbaut. Es ist überaus aufschlussreich, wenn wir uns einmal klar machen, was es eigentlich ist, wovor sich unsere selbsternannten Feinde, die fundamentalistischen Anführer, am allermeisten fürchten, nämlich gerade und in erster Linie vor der Inklusion und dem Einfluss anderer Kulturen. Denn dies würde das Ende der Isolation ihres Volkes und ihrer Anhänger bedeuten, und gleichermaßen das Ende des Fundamentalismus. Wie der Prophet es vorher gesagt hat, der Islam würde ein Teil der Weltgemeinschaft werden.    

    Leider besteht, was kurzfristige Lösungen angeht, bislang nur wenig Hoffnung. Wahrscheinlich wäre das Allerletzte, was zum harten Kern gehörende Fundamentalisten begrüßen würden, ein offener Dialog. Und wer würde daran zweifeln, dass die Bin Ladens dieser Welt und ihre radikalislamistischen Anhänger uns alle töten würden, wenn sie nur die Mittel und Möglichkeiten dazu hätten. Und deswegen hat es gegenwärtig den Anschein, als würde es ohne Gegengewalt nicht gehen, jedenfalls solange bis mehr gemäßigte Regierungen sich im Bemühen um echte Verständigung zusammen setzen und sich ernsthaft zur Kooperation bereit erklären. Und dennoch, gegenseitige kulturelle Erziehung und Bildung, wirtschaftliche Hilfe und der Austausch mit den Menschen muslimischen Glaubens und überhaupt mit allen Menschen anderen Glaubens, muss unsere wirkungsvollste Waffe bleiben im Kampf gegen die Gewalt.

                                  Ziele des Terrorismus

    Überall auf der Welt werden die Menschen aktuell von einem mehr oder weniger starken Gefühl der Verunsicherung heimgesucht. Einerseits legen die Menschen eine eiserne Entschlossenheit an den Tag, alles nur Erdenkliche für die Bekämpfung des Terrorismus zu tun und den Terroristen und all denjenigen – egal ob es sich nun um Einzeltäter oder ganze Länder handelt - die verantwortlich sind für diese moderne Version einer biblischer Geißel, das Handwerk zu legen und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Aber andererseits werden die Menschen gleichzeitig auch allenthalben von einem Gefühl der Angst erfasst, wo dann die gewöhnlichsten und aller alltäglichsten Dinge zu einem Problem werden und ihre frühere Selbstverständlichkeit verlieren, weil sie mit einmal potentiell gefährlich erscheinen: wie beispielsweise, eine Reise zu unternehmen, oder die Post zu öffnen, etc. Da drängt sich nun zwangläufig die Frage auf: Wie kann man sich die Ursachen des Terrorismus und die Wirkungen auf die Opfer bzw. die Opfergruppe erklären und psychologisch fassbar machen?         
    
    Der Terrorismus hat es ja geradezu darauf abgesehen, die Menschen zu verunsichern und in ihrem elementarsten und gleichzeitig wundesten Punkt ihrer Psyche zu treffen, d. h., der Terrorismus zielt darauf ab, den Menschen das Gefühl der basalen Sicherheit zu rauben. Mit anderen Worten, der Terrorismus trachtet danach, den Menschen den Eindruck zu vermitteln, dass es keinen sicheren Platz mehr gibt, keinen Ort, an dem man sich noch verstecken und geschützt und sicher fühlen kann. Die Katastrophe kann jederzeit und von überall her kommen. Menschen und Plätze, bei denen man sich früher sicher war, dass keine unmittelbare Gefahr von ihnen ausgeht, können nun auf einmal zu Werkzeugen der Zerstörung werden. Ein Brief kann möglicherweise einen Inhalt haben, der denjenigen, der den Brief öffnet, tötet oder schwer verletzt. Der Nachbar, der am Ende des Korridors ein Appartment gemietet hat, ist vielleicht ein Flugzeugentführer, der einen Terror- oder Mordanschlag geplant hat. Ein Passagierflugzeug kann sich plötzlich als ein tödliches Geschoss bzw. eine todbringende Rakete entpuppen.       

    Durch das Fernsehen und die anderen Medien wurde die Wirkung der Terroranschläge nur noch verstärkt. Wer wird je die Bilder der Flugzeuge wieder aus seinem Bewusstsein verbannen oder aus seinem Gedächtnis tilgen können, wie sie in die Türme des World Trade Centers einschlagen, oder wie die beiden hoch in den Himmel ragenden Türme einer nach dem anderen wie Kartenhäuser in sich zusammen fallen. Oder die täglichen Zeitungsberichte über die Anthrax-Bedrohung, die einige Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Welt in Angst und Schrecken versetzt hat und die reale Bedrohung durch gezielte Anschläge mit biologischen, chemischen und nuklearen Stoffen schlagartig zu Bewusstsein gebracht hat. Man kann sagen, unsere eigenen Freiheiten sind zu den wirkmächtigsten Waffen der Terroristen geworden.    
    
    Im ersten Augenblick erfüllt uns der Tod von Tausenden von Menschen mit blankem Entsetzen, zumal uns ein solches Ereignis völlig unvorbereitet trifft. Die Bilder der Katastrophe werden wieder und wieder abgespielt und uns so tausendfach vor Augen geführt. In der Folge aber wird der Tod für uns mehr und mehr zu etwas Stummem und Heimtückischem, der völlig unerwartet und unvorbereitet kommen, und der überall lauern und zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort zuschlagen kann. Eine Flut von Fragen drängt sich uns auf, wie etwa: Kann ich überhaupt noch in ein Flugzeug steigen? Wäre es vielleicht sicherer mit dem Zug zu reisen? Aber andererseits gibt es im Gegensatz zum Flugzeug im Zug keine Sicherheitskontrollen! Handelt es sich bei dieser weißen Substanz einer meiner Mitreisenden um Babypuder, oder könnte es sich dabei am Ende womöglich sogar um Anthrax handeln? Wie können wir ausschließen, dass diese Leute nicht die Möglichkeit haben, sich Zugang zu verschaffen zu Atomwaffen oder zu Pockenviren? Ebenso wie im Fall einer Panikattacke, so wird auch die Angst vor einem möglichen Terroranschlag schließlich zu einer weitaus mächtigeren Waffe als die wenigen tatsächlich verübten Anschläge. Aber sobald sich diese Bewusstseinsverfassung bzw. Seelenlage einmal bei der Bevölkerung etabliert hat, haben die Terroristen auch schon gewonnen und ihr eigentliches Ziel erreicht. Von nun an genügen ein paar vereinzelte, unvorhersehbare Vorfälle zwischendurch, um diesen zerstörerischen Zustand der Angst unmittelbar wieder anzustoßen und auszulösen.     
 
    Die Filmfabrik Hollywood scheint das Wesen jener Angst offenbar längst intuitiv erfasst und verstanden zu haben, so wie sie Freud bereits im Jahr 1919 in seinem Aufsatz “Das Unheimliche” minutiös beschrieben hat. Freud verwendet das Wort “heimlich”, das im Deutschen ursprünglich so viel wie “heimelig” oder “heimisch” bedeutet und das Gefühl von Sicherheit und wohligem Behütetsein evoziert. Die kleine Vorsilbe “un-” verkehrt nun allerdings das Wort in sein Gegenteil, so dass es nunmehr so viel wie fremd oder schreckenerregnd bedeutet. In Freuds eigenen Worten hört sich das so an: “unheimlich ist jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, längst Vertraute zurückgeht”. Im Anschluss daran präzisiert Freud seine Erkenntnis noch, indem er schreibt, dass dasjenige, was einem am meisten Angst einflößt und einen wirklich mit Schrecken erfüllt, nicht etwa etwas vollkommen Fremdes und Andersartiges ist, sondern eben vielmehr etwas, was einem bisher vertraut erschienen war, jetzt aber auf einmal seltsam verändert erscheint.    

    Kinofilme wie etwa “Die Invasion der Körperfresser”, in denen Freunde und Verwandte, denen man bislang immer wie sebstverständlich vertraut hatte, sich plötzlich als blutrünstige Eindringlinge aus dem Weltall entpuppen, haben es verstanden, diese von Freud beschriebene Urangst filmisch effektiv ein- und umzusetzen. Oder denken wir an Hitchcocks “Psycho”, wo der adoleszent anmutende männliche Protagonist sich in Wirklichkeit als ein mörderischer Schizophrener herausstellt, und wo eine entspannende Dusche schlagartig zur tödlichen Falle wird. Ein anderes und frühes Beispiel ist “Dracula”, ein Monster in menschlicher Gestalt, das all denen, die seinen Weg kreuzen, das Blut heraus saugt.     

    Der Terrorismus stellt nicht zuletzt deswegen eine so bedrohliche Macht dar, weil er in der Lage ist, das Vertrauen in unsere Fähigkeit zu unterminieren, die es uns ermöglicht abzuwägen und darüber zu entscheiden, was für uns sicher ist und was nicht. Die Terroristen wollen uns mit ihren Gewaltaktionen in einen Zustand versetzen, wo wir uns nicht länger auf das verlassen können, wovon wir bislang angenommen haben, dass es außer Frage steht und in gewisser Hinsicht selbstverständlich ist. Alles zielt darauf ab, unseren Glauben an unsere  Wirklichkeitsannahmen, die zur Bewältigung unseres alltäglichen Lebens absolut unverzichtbar sind, in den Grundfesten zu erschüttern.       

    Terroristen im Allgemeinen, aber diese moderne Version zeitgenössischer Terroristen im Besonderen, lassen keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass sie, obwohl sie in gewisser Hinsicht Menschen sind wie wir und auch so aussehen wie wir, sie dennoch absolut nicht gewillt sind, sich in irgend einer Weise an die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu halten. Es gibt keine Gesetze und keine Regeln, gegen die sie nicht bereit wären zu verstoßen. Selbst das am tiefsten in uns Menschen verankerte Grundbedürfnis, nämlich dasjenige nach Selbsterhaltung, hat für sie offensichtlich keine Gültigkeit mehr. Bin Laden bekannte, dass während Bush im Dienste des Lebens handle, er, Bin Laden, im Dienste des Todes handle. Lässt sich eine fundamentalere Verleugnung all dessen denken, was für uns Menschen für gewöhnlich das Wertvollste und Kostbarste ist?       

    Das universelle menschliche Bedürfnis, die Unschuldigen und Hilflosen oder Schwachen zu schützen, wie etwa die Frauen und Kinder, ist außer Kraft gesetzt und hat keine Gültigkeit mehr. Es gibt keine noch so grausame Tat, die sie nicht bereit wären zu begehen. Willkürlich verübte Mordanschläge werden zur Normalität. Das Ziel ist die Massenvernichtung.         

    Die Vorgehensweise und Strategie ist immer die gleiche, und sie ist durchaus beabsichtigt, wenn auch nicht notwendigerweise bewusst. Und sie verfolgt das Ziel, den Feind in einen Schockzustand zu versetzen und zu paralysieren, und zwar dadurch, dass in ihm die tiefsitzendste und elementarste Angst ausgelöst wird, was dann in der Folge jeden Widerstand unmöglich macht.       

    Was kann man nun also tun, um einen solchen ungleichen und subversiven Feind effektiv zu bekämpfen? Für unsere Unfähigkeit, Lösungen oder Lösungsansätze für dieses Problem zu finden, ist teilweise unser eigener natürlicher Hang zur Verleugnung verantwortlich zu machen. Wir wollen es einfach nicht wahr haben, dass Menschen von einem solch wahnsinnigen Hass erfüllt sein können und dann danach handeln. Wir erfinden uns eine ganze Reihe von Euphemismen, mit denen wir uns stattdessen befassen, um uns von dem Schrecklichen, das sich vor unseren Augen abspielt, was wir aber nicht sehen und wahr haben wollen, abzulenken. Diejenigen Angriffe, auf die wir dann noch hinzuschauen bereit sind, sind etwa solche wie: “Gewalt am Arbeitsplatz” oder “durch menschliches Versagen verursachte Katastrophen”.        
    
    Aber dennoch müssen wir uns der Wirklichkeit stellen, so schwierig das auch ist. Wir müssen begreifen und müssen es uns endlich klar machen, dass wir es hier nicht lediglich mit einem unserer Religion feindlich gegenüber stehenden, sondern mit einem im Wesentlichen faschistischen Gegner zu tun haben, der sich selber allerdings als etwas anderes ausgibt, und der quasi so alt ist wie die Menschheit selbst. Wie wir aus der Geschichte wissen, hat jede faschistische Bewegung in ihren Anfängen immer nur eine relativ geringe Anzahl von faschistisch ergebenen Anhängern. Und dennoch sollten wir uns nicht darüber hinweg täuschen, dass eine solche faschistische Bewegung heute eine immense Gefahr darstellt, und zwar nicht nur für die USA und Israel, sondern für die ganze zivilisierte Welt, denn es sind die Grundlagen und Grundprinzipien unserer Zivilisation, die hier das eigentliche Angriffsziel sind. Die Einrichtung eines globalen Antiterror-Netzwerks mit gut funktionierenden Militär- und Nachrichtendiensten hat oberste Priorität.    

    Was können wir tun, um unser persönliches psychisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und zu bewahren? Genauso wie unser Realitätssinn gegen uns verwendet und mithin pervertiert werden kann, so ist er dennoch gleichzeitig auch unser Hauptverbündeter im Kampf gegen den Terrorismus. Und so ist es wohl auch alles andere als verwunderlich, dass die Terroristen alles daran setzen, genau diesen unseren Realitätssinn zu beschädigen und zu untergraben. Zahlenmäßig sind die Terroristen in der Unterzahl, d. h., im Vergleich zu uns sind sie nur sehr wenige. Auch sind sie menschliche Wesen und deswegen angreifbar und verletztlich. Wir dürfen also nicht vergessen, dass wir ihnen zahlen- und resourcenmäßig weit überlegen sind; und das wissen sie auch. Wir haben jedes Mal dafür gesorgt, dass Sicherheits- und gesundheitsschützende Maßnahmen unmittelbar und sehr schnell ergriffen wurden. Ein Weckruf ist an uns ergangen und wir haben darauf reagiert.         

    Unser persönlicher Charakter, aber auch unser Charakter als Bürger der Weltgemeinschaft ist herausgefordert und auf den Prüfstand gestellt. Unsere Kinder schauen zu uns auf und erwarten von uns, Orientierung und Führung zu bekommen. Wir täten gut daran, uns an die Worte von Präsident Roosevelt zu erinnern, als er nach dem Angriff auf Pearl Harbor unsere Nation und die Welt zu gemeinsamem Handeln aufrief: “Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist unsere eigene Furcht.”       

    Wäre es nicht in gewisser Hinsicht eine Ironie des Schicksals, wenn gerade der 11. September der entscheidende Anstoß dazu gewesen wäre, dass es endlich zu einer größeren Verständigung kommt zwischen dem Islam und dem Rest der Welt? Dieses neu erlangte gegenseitige Verständnis und die neu gewonnene Offenheit füreinander könnte womöglich das Ende von Terrorismus und Hass bedeuten und gleichzeitig einen Triumph der Menschlichkeit und des menschlichen Geistes, und zwar sowohl für die Menschen als auch für die Nationen.  

Aus dem Englischen übersetzt von M. A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck, Nürtingen am Neckar.         
    

                                                      


            
   
       

 

             
              

      

         

                                            
 
 

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