Das Subjekt der Andersheit, das Subjekt als Andersheit

Dr. Eyal Rozmarin
 

Die psychoanalytische Theorie ist eine Theorie über die Beziehungen zwischen dem menschlichen Bewusstsein und demjenigen, was sich diesem Bewusstsein entzieht, dem Anderen.

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Le pour-soi est ce qu'il n'est pas, et n'est pas ce qu'il est.

Jean-Paul Sartre, L’Etre et le Néant. 


Der bedeutende französische Philosoph Emmanuel Levinas brachte das fundamentale Paradox der conditio humana folgendermaßen auf den Punkt: “Subjektivität ist strukturiert als der-Andere-im-Selben.” (Levinas, 1998, S. 69) Die Psychoanalyse geht von einer ganz ähnlichen Grundvoraussetzung aus, nämlich derjenigen, dass es in jedem von uns bestimmte Aspekte und Wirkkräfte gibt, die dem bewussten und intentionalen Selbst verborgen und fremd bleiben. Diese Andersheit im Selbst bzw. des Selbst wird von den verschiedenen psychoanalytischen Theorierichtungen auf unterschiedliche Weise konzipiert. Auch wenn Freud sich seinerzeit einer ganz anderen Sprache bedient hat als Levinas, so ist Freud dennoch in seinen Theorien und Konzeptionen grundsätzlich von der Vorstellung eines Enigmas von Kräften ausgegangen, die sich jenseits der Kontrolle des Subjekts befinden, und die intensiv auf den Bereich der Erfahrung des Subjekts einwirken und sich darüber manifestieren. Das Symptom bleibt per definitionem dem bewussten Selbst verborgen und fremd. Man könnte hier noch ergänzend sagen, dass sowohl die Vorstellung vom Trieb als auch diejenige vom Über-ich dem realen “Ich” wie fremde, trans-subjektive Kräfte erscheinen; im Fall des Triebes sind es physische, aus dem Körper entspringende Kräfte, während es im Fall des Über-ichs aus der Gesellschaft erwachsende Kräfte sind. Wenn Lacan (2006) sagt, dass die Subjektivität durch den Diskurs des anderen geschaffen wird, so erscheint uns dies tatsächlich wie ein Widerhall der von Levinas postulierten Grundidee. Auch Laplanche (1992) verweist auf etwas ganz Ähnliches, wenn er sagt, dass der Kern des Unbewussten durch das Begehren des Anderen gebildet wird.    

All das soeben Gesagte hat im Großen und Ganzen auch für die Psychoanalyse Gültigkeit. Im Wesentlichen vertritt die Psychoanalyse nämlich auch keine andere Auffassung als die, dass die Subjektivität als die Andersheit-im-Selben strukturiert ist, jedenfalls solange sich die Psychoanalyse als eine Theorie versteht, die sich mit den Beziehungen zwischen dem menschlichen Bewusstsein und dem, was sich diesem Bewusstsein entzieht, befasst, anders gesagt, mit demjenigen, was im dialektischen, paradoxalen, konfliktuellen oder definitorischen Sinne unbewusst bleibt und mithin dem Bewusstsein als das Andere und Fremde entgengensteht. Allerdings ergänzt die Psychoanalyse die von Levinas formulierte und vertretene These noch um einige wichtige Konzeptualisierungen, die uns zu einer genaueren Vorstellung und einem profunderen Verständnis der dieser überaus komplexen und fragilen Struktur inhärenten Dynamik gelangen lassen. 

Diese Andersheit, in der ein jeder von uns sich aufgehoben fühlt, und die ein jeder von uns aber gleichzeitig auch in sich aufhebt, ist in gewissem Sinne beinahe alles (Rozmarin, 2007b), was wir haben - und zwar, präziser gesagt, in dem Sinne, dass “ein jeder von uns” eine eigenständige und separate Einheit für sich selbst bildet, und auch in dem Sinne, dass von dieser Andersheit gesagt werden kann, dass sie auf jedwede denk- und lesbare Weise “in” uns ist. So gesehen bleibt einem jeden von uns nicht viel mehr als ein unsteter sich selbst empfindender, selbst-bezüglicher Orientierungs- und Bezugspunkt, ein rebellischer Körper und ein unbeständiger und unzuverlässiger Fundus an Erinnerungen. Wenn wir uns einmal wirklich klar machen, dass unsere Erinnerungen trügerisch sind, unser Körper tyrannisch ist, und unser Selbstbewusstsein wechselhaft und schwankend, dann könnten wir uns tatsächlich fragen, was eigentlich genau diese unsere Identität ist und ausmacht, die die Vorstellung vom Selbst beinhaltet. Was genau an und in uns ist es, das sich mit sich selbst identisch fühlen lässt? Wir können uns diese Frage zwar stellen, und dennoch ist es schlichtweg eine Tatsache, dass die meisten von uns ganz einfach das Gefühl haben, mit sich selbst identisch zu sein, und sich einigermaßen auf eine kontinuierliche Erfahrung des eigenen Seins verlassen zu können. 

Freud hat in seiner Arbeit und seinem gesamten Lebenswerk stets versucht, dieses Paradox zu begreifen und aufzulösen, nur um dann am Ende seines Lebens doch wieder zu seinen Anfängen zurückzukehren. Im Unterschied zu Levinas war Freud außerstande, oder vielleicht besser gesagt, nicht gewillt bzw. nicht daran interessiert, in jenen Bereich jenseits des Seins vorzudringen. Vielleicht liegt das ganz einfach daran, dass die Psychoanalyse zum einen eine klinische Praxis ist, und zum anderen eine Theorie der conditio humana. Die klinische Wirklichkeit stellt oftmals schier uneinlösbare Forderungen an uns. Eine unserer größten Herausforderungen besteht darin, genau jenen Bereich zwischen diesen beiden Tendenzen der Psychoanalyse immer wieder von Neuem auszuloten und zu erkunden, nämlich jenen Bereich, der sich aufspannt zwischen, einerseits, der Tendenz, die Psychoanalyse als eine grandiose Theorie des Subjekts und, jenseits des Subjekts, der Kollektivität zu begreifen und, andererseits, der Notwendigkeit, sich dem jeweiligen, tatsächlich gegewärtigen Anderen zuzuwenden, der sich in unseren psychoanalytischen Behandlungszimmern einfindet, um bei uns Hilfe zu suchen. 

Aus diesen Überlegungen heraus habe ich dann angefangen, mich vermehrt mit dem Thema der Immigration zu beschäftigen; und zwar, mit der Immigration als einer Realität, die sich auf unser Leben und auf unsere Praxis als Psychoanalytiker unmittelbar auswirkt; aber auch mit der Immigration als einer Metapher, die für etwas viel Allgemeineres und Grundsätzlicheres steht, nämlich für die Unbehaustheit und Andersheit und die Gefährdetheit des menschlichen Daseins. Über die Immigration als einer Realität sowie als einer Metapher nachzudenken, bedeutet unweigerlich ein neuerliches Hinterfragen unserer Theorien sowie auch unserer psychoananalytischen Behandlungsmethoden.    

Immigration bedeutet Vertreibung aus der Vertrautheit eines bislang gewohnten Lebenszusammenhangs, einer Familienstruktur, einer Sprache und Kultur, womit in manchen Fällen die unumgängliche Notwendigkeit einhergeht, sich an ein radikal neues und verändertes Leben anzupassen. Immigration impliziert komplexe, mitunter traumatische Veränderungen und Verschiebungen in den Beziehungen hinsichtlich des sozialen Wissens bzw. der Machtgleichungen, wie Foucault es genannt hätte. Diese Veränderungen in den Beziehungen manifestieren sich sowohl im subjektiven als auch intersubjektiven Bereich mehr oder weniger offensichtlich oder auch nur implizit bzw. im Verborgenen. Immigration ist ja heute in unserem unmittelbaren Umfeld und Alltag allgegenwärtig. Viele von uns sind selbst Immigranten oder die Kinder bzw. Nachfahren von Immigranten. Immigration war seit jeher, und ist es heute mehr denn je, ein menschliches und politisch dringliches Problem überall auf der Welt.  Wir sehen uns mit Strömen von Menschen konfrontiert, die kontinuierlich aus ökonomischen und politischen Unruhegebieten in die wohlhabenderen und sichereren Teile der Welt drängen. Einerseits werden in den Gastländern Stimmen laut, sich dieser neuen und veränderten Situation anzupassen und mit ihr angemessen umzugehen, andererseits gibt es dem widersprechende Stimmen, die sich dieser Problematik grundsätzlich verschließen und dafür pädieren, die Immigranten auszuweisen und in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken; ein Konflikt, der heute einen Großteil des globalen politischen Diskurses beherrscht und zunehmend besorgniserregende politische Veränderungen befürchten lässt. All das hat gravierende Auswirkungen auf unser Leben, sowie auch auf das Leben unserer Patienten. Wir sind mit diesen Realitäten direkt und unmittelbar konfrontiert und können ihnen nicht aus dem Weg gehen. Und wir erleben wie sich diese Realitäten und deren Implikationen im subjektiven sowie intersubjektiven Bereich allenthalben bemerkbar machen.         

Und nichtsdestotrotz unterschätzen wir oftmals die damit verbundenen Belastungen, wenn wir sie nicht überhaupt vollständing ausblenden und ignorieren. Meiner Ansicht nach hat das zweierlei Gründe. Mit ihren am Subjekt orientierten Vorstellungen vom Individuum und vom familiären Zusammenleben ist die Psychoanalyse zunächst nur ungenügend darauf vorbereitet, sich mit größeren sozialen Fragen zu befassen. Ein weiterer Grund ist sicherlich in der Tatsache zu finden, dass die Psychoanalyse über einen sehr langen Zeitraum hinweg ihren eigenen Migrationshintergrund verleugnet hat (Jacoby, 1983).   

Und infolgedessen kann man sagen, dass das Phänomen der Immigration, wie im Übrigen das meiste andere auch, was wir als das “Soziale” oder das “Gesellschaftliche” bezeichnen, im Unbewussten des Unbewussten der Psychoanalyse versenkt und verankert ist. Und somit stellt Immigration ein dramatisches Moment innerhalb der wie immer prekären sozio-politischen Bereiche menschlichen Lebens dar: Immigration, verstanden als ein Symbol für die Überwindung von unterschiedlichsten sozialen und politischen Grenzen; Immigration, verstanden als die Beziehung zwischen einem, nach außen hin, melancholischen Zustand und einem inneren Zustand nicht nachlassenden Begehrens; oder Immigration, verstanden als ein Gespenst der Andersheit, das sich dauerhaft in uns eingerichtet hat. Und nicht zu vergessen, Ödipus selbst war ein Exilant. In diesem Sinne sind wir alle Exilanten, von der Zeit angefangen, da wir in unserer Herkunfstsfamilie aufgewachsen und groß geworden sind, bis hin zum heutigen Tag, wo wir unter den aktuellen Bedingungen und den jeweiligen verwandschaftlichen Verhältnissen unser Erwachsenenleben leben.  

Wie können wir für diese psychische Gegebenheit die Verantwortung übernehmen, wo wir doch alle nur die passageren und zeitweiligen Kinder von sich nach und nach von uns zurückziehenden Eltern sind, und wo es infolgedessen keine dauerhaft sichere Bindung gibt? Wie können wir diese Andersheit verstehen und akzeptieren, die in Form von allen möglichen sich stets verändernden, neuen Situation bzw. Bedingungen permanent in uns einströmt? Diese Andersheit, die unser subjektiv-kollektives Gefühl von Identität ins Wanken bringt, und unseren Argwohn weckt und unseren Verdacht erregt, und einen Trieb auf den Plan ruft, der nur verdrängt bzw. emittiert werden kann? Zu was für einer Einschätzung unserer psychoanalytischen Arbeit gelangen wir, wenn das von Laplanche (1988) beschriebene Enigma und das von Ferenczi (1932) ins Blickfeld gerückte Trauma weit über das Unbewusste unserer Herkunftsfamilie hinausgehend unser Leben bestimmt und durchdringt? Was für Schlüsse ziehen wir, wenn uns bewusst wird, dass Sprachverwirrungen und enigmatische Botschaften all den Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Kollektiv zugrunde liegen und im Wesentlichen das Fundament unseres sozialen Lebens bilden (Rozmarin, 2015)?  

Das Nachdenken über Immigration ermöglicht es uns, das von uns verleugnete Offensichtliche zu erkennen und zu sehen: Wir befinden uns im Sog und im Einzugsbereich eines unermeßlichen und vielfach determinierten sozialen Unbewussten; einem Unbewussten, das häufig aus dissozierten und verdrängten subjektiv-kollektiven, ja traumatischen Bedeutungszusammenhängen besteht, wobei den aktuellen, häufig überwältigenden politischen Verhältnissen sowie auch den historischen Gegebenheiten eine wichtige Rolle in der Auswirkung auf unser Leben zukommt. Es handelt sich dabei um ein Unbewusstes, zu dem wir uns nur in begrenztem Maße einen Zugang verschaffen können, mit anderen Worten, um eine unermeßliche und überwältigende Andersheit, die jederzeit in der Lage ist, jedwedes Gefühl von Identität und Übereinstimmung mit uns selbst zu gefährden und zu erschüttern. Und doch hängt unser Leben von kaum etwas anderem so sehr und entscheidend ab, wie von diesem Gefühl von Identität, was unserem Leben erst Sinn und Bedeutung verleiht.      

Unser Leben ist deswegen so abhängig davon, weil es absolut notwendig für uns ist, unseren gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhang, oder, wie Adorno (1966) es nannte, den Verblendungszusammenhang, in dem wir uns als Menschen in der Gesellschft befinden, zu verstehen. Das Verstehen ist eine Bedingung der Freiheit. Freiheit gegenüber der sozialen und politischen Unterdrückung bzw. gebenüber den tagtäglichen Manipulationen, die uns immer mehr von uns selbst und von anderen entfremden. Freiheit aber auch gegenüber den Gespenstern der Geschichte, von denen wir allenthalben umgeben sind, und die wir erst dann auf eine neue Art und Weise betrachten können, nachdem wir sie vom Fluch ihrer Vergangenheit befreit haben. Und zu guter Letzt, Freiheit im Sinne von Befreiung von der Angst vor der Andersheit, eine Angst, die durch die von der Zivilisation an uns gestellten Anforderungen in uns heraufbeschworen wird, eine Zivilisation, die bevorzugt mit binären Begriffen, wie z.B. innen und außen, oder das Selbe und das Andere, operiert und argumentiert, um dadurch die bestehenden ordnungspolitischen Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten. 

Für uns alle ist das Andere bzw. die Andersheit in gewisser Hinsicht angsteinflößend. Wir müssen uns nur einige Entwicklungen im zeitgenössischen politischen Diskurs anschauen, um festzustellen, dass die durch die Panik vor dem Anderen und der Andersheit heraufbeschworenen psychotischen Konfabulationen denen eines Daniel Paul Schreber in nichts nachstehen. Die Panik vor dem Anderen (der Andersheit) treibt die Menschen nicht selten dazu, sich verzweifelt an irgendwelchen illusionären und trügerischen Artefakten von Selbstheit festzuhalten. Die von der Zivilisation und Kultur, in der wir momentan leben, geschaffenen Artefakte dienen hauptsächlich dazu, uns in eine ganz bestimmte, der jeweiligen spezifischen Kultur angepasste und mehr oder weniger unbewusste Zwangsjacke zu stecken. Eine der großen Erkenntnisse, die wir der Psychoanalyse verdanken, besteht ja darin, dass die Subjektivität eines jeden Einzelnen genau von dieser Zwangsjackenstruktur regiert wird, und einen jeden von uns zu einem von ewigem Konflikt und Kompromiss geprägten Dasein verurteilt. Wenn sich Freud der hier von mir verwendeten Sprache bedient hätte, so hätte er gewiss darin übereingestimmt, dass eben genau dieser unser Konflikt mit der Andersheit sowie unser Bedürfnis, uns von dieser Andersheit zu distanzieren und abzugrenzen, sowohl unserer Kultur als auch unserem Unbehagen in ihr ständig neue Nahrung liefert. Es ist dieser fundamentale Konflikt, der die Psychoanalyse an ihre Grenzen stoßen lässt, aber gleichzeitig auch immer wieder von Neuem eine lohnende Herausfordernung für sie darstellt.   

Vor noch nicht all zu langer Zeit hatte sich einer meiner Patienten in sich selbst zurückgezogen, und zwar so sehr, dass er schließlich, wie er mir mitteilte, in einen mentalen Raum hinein geraten war, in dem er nicht mehr wusste, was er sagen sollte. Wir sind beide Immigranten in dem Land, in dem wir leben, und somit wissen wir, was es heißt, von einem Land in ein anderes übersiedeln zu müssen. Und nun steht mit einem Mal im Raum, dass der berufliche Karriereweg meines Patienten möglicherweise eine neuerliche Ortsveränderung erforderlich macht, aber dieses Mal hat er die Befürchtung, dass der erneute und abermalige Ortswechsel ihn überforden könnte. Warum ist dem so, frage ich mich. In der Vergangenheit hatten wir den Kontakt über das Internet während der langen Zeiträume seiner Abwesenheit aus beruflichen Gründen aufrecht erhalten. Auf meine Frage hin, erhalte ich von ihm eine für mich in diesem Moment überraschende Antwort. Er sagt mir, um sich in unserer zukünftigen Zusammenarbeit sicher zu fühlen, bräuchte er es, dass ich für ihn auf eine Weise da und präsent bin, wie ich es bislang für ihn nicht gewesen bin. “Dieses Arrangement, dass Sie da sind, und ihre Arbeit tun, und dass ich hier in ihrer Gegenwart bin und all dieses Elend durchlebe, ist mir mit der Zeit ganz unerträglich geworden und bringt mich völlig durcheinander. Ich möchte, dass wir die Plätze tauschen. Ich möchte, dass Sie auf der Couch Platz nehmen und ich mich in ihren analytischen Sessel setze.”.  

Ich denke bei mir, dass er auch einmal erleben möchte, wie es ist, sich an einem sicheren Platz zu befinden und sich sesshaft, ruhig und gelassen zu fühlen. Und das ist noch nicht alles, er möchte von mir, dass ich im Gegenzug meine sichere und gesicherte Position innerhalb des Raumes sowie auch innerhalb unserer Beziehung aufgebe und hinter mir lasse. Um dahin zu gelangen, möchte er nun von mir, dass ich aus meinem sicheren Kontinent auswandere bzw. emigriere und buchstäblich dorthin immigriere, d.h., an diesen Ort, wo er sich nun schon für eine so lange Zeit befunden hat, und von wo aus er mich bislang vergeblich zu erreichen versucht hat. Intuitiv weiß und ahne ich, dass ein solcher Ortswechsel bzw. Umzug mir tatsächlich zu einem besseren Verständnis seines Gefühls von Vergänglichkeit und Ungewissheit innerhalb unserer streng orchestrierten (analytischen) Landschaft verhelfen würde. Es wäre jedenfalls für uns beide eine Form der Lernerfahrung, die sich auf eine dramatische und drastische Weise von derjenigen unterscheiden würde, wie wir sie gewohnt sind. In gewisser Hinsicht wäre es sicherlich auch eine beängstigende Erfahrung. Es ist schwer vorstellbar, was passieren würde, wenn wir wirklich die Plätze tauschten. Aber dennoch ist es auch ein unglaublich zündender und aufregender Gedanke, weil diese veränderte Konstellation die unzähligen Über-ichs, die unsere Beziehung steuern und bestimmen, vorübergehend suspendieren und außer Kraft setzen würde.  

In diesem Zusammenhang muss ich an Ferenczis (1927-28, zit. in Adorno, 1966, S.267[1]) Feststellung denken, “dass eine wirkliche Charkteranalyse, wenigstens vorübergehend, mit jeder Art von Über-ich, also auch mit dem des Analytikers, aufzuräumen hat.” Es scheint so, dass bei diesem Patienten eben dieser Schwellenpunkt erreicht war. An diesem Scheidepunkt mit dem Über-ich “aufzuräumen”, würde bedeuten, auf sämtliche territorialen Rechte und alles, was damit einhergeht, zu verzichten, und die restriktiven Zuwanderungsbestimmungen sowie die damit in Verbindung stehenden Narrative, die unseren jeweils verschiedenen Status in diesem Land und in diesem Behandlungsraum festlegen und bestimmen, außer Kraft zu setzen.   

Dies würde von mir verlangen, auf mein inzwischen mühsam erworbenenes Bürgerrecht zu verzichten und stattdessen zu verstehen, oder besser gesagt, mich daran zu erinnern, wie es damals für mich war, mit einem auslaufenden Aufenthaltsvisum für Studenten in diesem Land zu leben. Und was würde dies für ihn bedeuten? In der ersten Zeit unserer analytischen Zusammenarbeit hatte mein Patient häufig Bemerkungen über die Einrichtung und das Mobiliar meines Behandlungszimmers gemacht, die ihm, wie ich aus seinen Kommentaren schloss, zu signalisieren schienen, dass unsere jeweiligen Positionen im Leben verschieden waren, und dass ich einen sozialen Status erreicht hatte, bei dem es mir schwer fiel, seinen sozialen Status zu verstehen. Er machte sich sogar lustig über die bemühte Zwanglosigkeit des Raumdesigns, wie er meinte. Doch mein Patient hat nicht auf Dauer auf diesem Standpunkt beharrt. Heute richtet sich seine Aufmerksamkeit erneut, allerdings auf eine ganz andere Weise, auf das Mobiliar und die Einrichtung meines Behandlungszimmers. Im Unterschied zu früher würde er heute am Liebsten alles für sich beanspruchen und in Besitz nehmen, um mich von meinem Platz und meiner Position zu verdrängen und mich aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen, damit endlich einmal ich es bin, der sich anders bzw. als ein Anderer fühlt.
 
Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass ich mir dies nur ungern vorstellen wollte. Es fiel mir nämlich tatsächlich unglaublich schwer, mir auch nur in vivo vorzustellen, wie es wäre, jene Formen von Hegemonie und Souveränität, die unseren analytischen Rahmen definieren, ernsthaft in Frage zu stellen. Man hat uns glauben gemacht, dass der psychoanalytische Rahmen nur dann funktionieren und stabil bleiben kann, wenn alles so bleibt wie es ist. Aber vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass so sehr die Vernunft wie auch die Erfahrung in gewisser Hinsicht für diesen Glaubenssatz sprechen, er dennoch gleichzeitig etwas zutiefst Kompromittierendes beinhaltet, und zwar sowohl für unsere Patienten als auch für die Psychoanalyse selbst. Er lässt uns auf der Stelle treten, in Hierarchien denken und die Territorien, auf die wir alleiniges Anrecht zu haben meinen, über die Maßen schützen. Er macht auch, dass wir übermäßig Angst vor den Anderen haben, genau so wie die Zivilisationen und Kulturen seit jeher all jene fürchten, die Nomaden und Außenseiter sind. Er hindert uns daran, gegen den Strich zu denken.
 
Literatur
Adorno, T. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 
Fanon, F. (2015). Schwarze Haut, weiße Masken. Wien: Turia & Kant.
Ferenczi, S. (1927/28). Die Elastizität der psychoanalytischen Technik In: Bausteine zur Psychoanalyse. Band III: Arbeiten aus den Jahren 1908-1933. Berlin: Ullstein, 1984, S. 380-398. 
Ferenczi, S. (1932). Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Bausteine zur Psychoanalyse. Band III. Arbeiten aus den Jahren 1908-1933. Berlin: Ullstein, 1984, S. 511-525.
Jacoby, R. (1983). Die Verdrängung der Psychoanalyse: oder der Triumph des Konformismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016.
Lacan, J. (2006). Schriften I+II. Vollständiger Text. Wien: Turia & Kant, 2015/16.
Laplanche, J. (1988). Allgemeine Verführungstheorie. Tübingen, edition diskord.
Laplanche, J. (1992). Deutung zwischen Determinismus und Hermeneutik. Neue Fragestellung. Psyche 1992, 46(6), S. 467-498.
Levinas, E. (1998). Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. München: Alber.
Rozmarin, E. (2007a). An Other in Psychoanalysis: Emmanuel Levinas’s Critique of Knowledge and Analytic Sense. Contemporary Psychoanalysis, 43: 327-360.
Rozmarin, E. (2007b). The Other is everything. Contemporary Psychoanalysis, 43: 386-398.   
Rozmarin, E. (2009). I am Yourself: Subjectivity and the Collective. Psychoanalytic Dialogues, 19: 604-616.
Rozmarin, E. (2015). A Second Confusion of Tongues: Ferenczi, Laplanche and Social Life. In A. Harris & S. Kuchuck (Eds.), The Legacy of Sandor Ferenczi: From Ghost to Ancestor. New York: Routledge, 264-273.
Rozmarin, E. (2017). Immigration Belonging, and the Tension between Center and Margin in Psychoanalysis. Psychoanalytic Dialogues, 27: 470-479.
 
[1] Diese Aussage findet sich in der deutschen Ausgabe von Ferenczis Bausteine zur Psychoanalyse. Sie steht bemerkenswerterweise nicht in der englischsprachigen Übersetzung von Ferenczis Arbeiten, die Ernest Jones herausgegeben hat. Ich selber bin auf das betreffende Zitat in Adornos Negativer Dialektik gestoßen.  
 
Aus dem Englischen übersetzt von M.A. Luitgard Feiks und Jürgen Muck.
 
 

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