Das erste Mal: Psychoanalyse in neuen Gebieten

Maria Teresa Savio Hooke
 

Sehr gerne komme ich der Aufforderung nach, in der ersten Ausgabe des E-Journal mit dem Thema 'Das erste Mal', die Arbeit der 'Internationalen Neuen Gruppen' (“International New Groups”)...

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Sehr gerne komme ich der Aufforderung nach, in der ersten Ausgabe des E-Journal mit dem Thema 'Das erste Mal', die Arbeit der 'Internationalen Neuen Gruppen' (“International New Groups”) vorzustellen, insbesondere weil das auf internationaler Ebene stattfindende Engagement der IPA, die Fundamente für die Entwicklung der Psychoanalyse in neuen Gebieten zu legen, bei vielen unserer Mitglieder bislang noch nicht ausreichend bekannt ist bzw. nicht diejenige Beachtung gefunden hat, die es verdient. Tatsächlich hören wir derzeit eine ganze Menge über die Schwierigkeiten und Probleme, mit denen sich die Psychoanalyse in den Ländern des Westens auseinander zu setzen hat. Was hingegen immer noch viel zu wenig Beachtung findet, ist die Tatsache, dass sich durch die weltweite Verschiebung und Lockerung der Grenzen in jüngster Zeit für die Psychoanalyse geographisch neue Gebiete, aber auch neue kulturelle und geistige Horizonte eröffnet haben und immer noch eröffnen. In diesem Zusammenhang wäre vor allem das wachsende Interesse für die Psychoanalyse innerhalb der nachwachsenden Generationen zu nennen, aber insbesondere auch innerhalb der vielen an den Dienstleistungen für geistige und psychische Gesundheit beteiligten Berufsgruppen in den Ländern von Ost- und Mitteleuropa, von Lateinamerika, Asien, Südafrika und dem Nahen Osten.

Der Einflussbereich der IPA reicht heutezutage in Territorien, welche nicht zu den 'traditioellen Gebieten' der Psychoanalyse gehören, d. h. zu Gebieten, in denen die Psychoanalyse entstanden ist und sich dann weiter entwickelt und in einer sozusagen 'ersten Welle' ausgebreitet hat im Anschluss an die ”Diaspora” während und nach dem Zweiten Weltkrieg, also nach der erzwungenen Abwanderung der Psychoanalytiker aus Wien, Berlin und Budapest nach London, in die USA, nach Lateinamerika, und noch weiter weg nach Südafrika und Australien.

Gegenwärtig werden wir nun Zeugen einer 'zweiten Welle' der Ausbreitung der Psychoanalyse, ausgelöst durch massive politische und gesellschaftliche Veränderungen in den letzen Jahren: das Ende des Kalten Krieges und der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, die Öffnung und Orientierung Chinas zum Westen hin nach 1978, die Auflösung der früheren Sowjetunion im Jahr 1991, die Konsolidierung von Demokratien in Lateinamerika im Laufe der letzten zwanzig Jahre, und schließlich, neben der fortschreitenden Globalisierung, auch die zunehmende Akzeptanz des psychoanalytischen Gedankenguts in der Öffentlichkeit, sowie die rasante Entwicklung und Ausbreitung psychologisch orientierter Therapien in Verbindung mit einer kulturellen und sozialen Veränderung, die mittlerweile psychologische Hilfe nicht nur möglich und finanziell erschwinglich sondern sogar 'mainstream' macht. John Kafka schreibt diesbezüglich: “Die Verbindung zwischen schnellen sozialen Veränderungen und dem Wachsen der Psychoanalyse ist nicht zufällig. Die Prüfung unserer Geschichte zeigt, dass die Psychoanalyse in einer ruhigen, durchschnittlich voraussagbaren Umwelt sich nie besonders entwickelte oder zur Blüte kam. Die Psychoanalyse hat schließlich ihren Geburtsort doch in der Moderne, nämlich dem Wien von Freud, also einem Umfeld, das durch außerordentliche Schnelllebigkeit charakterisiert sowie durch die Intensität seiner ideologischen, sozialen und politischen Veränderungen gekennzeichnet war.” (Zitiert bei Fonda, P., 2011)

Die ING (“International New Groups”):

Die ING-Kommission kooperiert mit 19 “Study Groups” und 6 “Provisional Groups”, die insgesamt 450 Kandidaten ausbilden. Von der IPA anerkannte “Study Groups” gibt es derzeit in Bulgarien, Estland, Lettland, Libanon, Russland, Portugal, Südafrika, Türkei und Litauen in Europa; Paraguay, Brasilien (5 Study Groups), Mexiko (2 Study Groups), Panama in Lateinamerika; in Nordamerika und Asien, Südkorea. Von der IPA anerkannte “Provisional Societies” gibt es in Russland, Rumänien, in der Türkei, Kroatien, Serbien und Frankreich.

Es gibt zwei Ausbildungsinstitute, die einen den Richtlinien und Qualitätsmerkmalen der IPA entsprechenden Ausbildungsgang organisieren und anbieten: Das “Psychoanalytic Institute of Eastern Europe” (PIEE) (heute: EPI [“European Psychoanalytic Institute”]) sowie das “Latin American Institute of Psychoanalysis” (ILAP). Beide stehen zusammen mit dem “China Committee” unter der erweiterten Schirmherrschaft der ING sowie dem “Allied Centre Committee”. Wir kooperieren derzeit mit vier “Allied Centres”: in China, Korea, Taiwan und Tunesien.

Das “European Psychoanalytic Institute” (EPI) hat “Study Groups” in Armenien, Weißrussland, Georgien, Moldawien, der Ukraine, St. Petersburg und Rostow, mit insgesamt 53 Ausbildungskandidaten.

Das “Latin American Institute of Psychoanalysis” (ILAP) hat “Study Groups” in Ecuador, Honduras und Bolivien, mit insgesamt 17 Kandidaten und ist gerade dabei, auch in der Dominikanischen Republik und in Kuba eine “Study Group” zu gründen. Das “China Committee” bietet ein den Standards der IPA entsprechendes Psychoanalysetraining in Peking und Schanghai an, mit 13 Kandidaten.

Die erste Begegnung:

Ich will mein Augenmerk nun auf 'das erste Mal' lenken, auf die erste Begegnung der ING mit einem Pionier, einer kleinen Gruppe von Analytikern, einem Interesse, einer Neugier, einer Lust zu lernen und einem Willen, etwas Neues zu beginnen. Wie hat man sich also den Beginn unserer Arbeit vorzustellen? Häufig herrscht die völlig irrige Meinung vor, und zwar nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch unter uns Mitgliedern, dass die IPA und die ING in neue Gebiete geht, um diese zu kolonialisieren, d. h. ihnen sozusagen missionarisch ihre koloniale Macht überzustülpen. Und diese überaus skeptische oder gar falsche Sicht der Dinge läßt sich nur schwer aus der Welt schaffen. Die Tatsache, dass Freud der Gedanke wichtig war, die Psychoanalyse auch in entfernteren Gegenden der Welt zu etablieren und zu verbreiten, wird heute von uns gerne beiseite geschoben und vergessen, vermutlich weil wir uns zu sehr vor den Unsicherheiten und Risiken fürchten, die neue Bewegungen für gewöhnlich immer mit sich bringen, weil sie u. U. die uns inzwischen vertrauten und lieb gewordenen Werte der psychoanalytischen Praxis und Ausbildung in Frage stellen und gefährden könnten. Allerdings hat uns die Wirklichkeit heute längst eingeholt und eines Besseren belehrt: Nicht wir gehen aus eigener Initiative heraus in die entlegenen Gebiete, um dort für die Psychoanalse zu werben und sie bekannt zu machen, sondern wir, das heißt, die ING, bekommen eine Anfrage, und auf diese Anfrage antworten wir dann. Meiner Ansicht nach verbirgt sich hinter jeder dieser Anfragen ein dringliches Anliegen, das in der Regel überaus komplex ist: eine Kombination aus einem Bedürfnis nach Hilfe und einem starken Verlangen nach etwas Neuem; vielleicht die vage Hoffnung auf die Möglichkeit von Individuation und von persönlicher Freiheit; die Suche nach Identität und die Neugier und das Bedürfnis, sich selbst und den Funktionsmechanismus der Psyche zu erforschen; die Möglichkeit persönliches Leiden besser zu verstehen und mittels 'Containment' zu lindern.

Jede Gruppe hat sebstverständlich ihren ganz eigenen und spezifischen Anfang, der weiter wirkt und die zukünftige Entwicklung der Gruppe entscheidend mitbestimmt und prägt. Allerdings lassen sich auch gewisse Muster bzw. Gemeinsamkeiten konstatieren: der Enthusiasmus der Pioniere, die ihre psychoanaltische Ausbildung in einem fremden Land gemacht haben und dann nach Hause zurückkehren, um dort in ihrem Heimatland die Psychoanalyse zu etablieren und bekannt zu machen; das Wiederaufleben der Psychoanalyse in Ländern, wo die Psychoanalyse vormals eine langjährige Tradition besaß, die allerdings dann von einem repressiven Regime abrupt und gewaltsam unterdrückt wurde; es gibt aber auch Gruppen, die vormals einer größeren Gesellschaft zugehörten und sich dann selbständig machen, um in ihrer eigenen Stadt ein unabhängiges Trainingsprogramm zu entwickeln auf der Suche nach einer eigenen Identität; es gibt auch Gruppen, die sich aus ethischen Gründen oder infolge von unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten und Konflikten von einer bereits bestehenden Gesellschaft abspalten. - In all diesen Fällen nimmt die jeweilige Gruppe dann mit der ING Kontakt auf. Auf die Anfrage der Gruppe hin wird von uns eine kleine Kommission einberufen, die die realen Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen Gruppe evaluiert, um später dann die weitere tatsächliche Entwicklung zu überprüfen: die Mitglieder der ING-Kommision, bestehend aus einer kleinen Gruppe von 'Sponsoren', reisen zweimal im Jahr zu oftmals weit entfernten und entlegenen Orten auf allen Kontinenten der Welt, betraut mit einer komplizierten Aufgabe, die extrem viel Fingerspitzengefühl erfordert: sie fungieren als Förderer, Lehrer, Vemittler und Berater. Die 'Sponsoren' kooperieren für gewöhnlich über einen Zeitraum von fünf bis sechs Jahren mit der neuen Gruppe, um ihr dabei zu helfen, die Fundamente für die Gründung einer psychoanalytischen Gesellschaft zu legen; d. h. die ING ist behilflich beim Aufbau einer Organisationsstruktur, eines geeigneten Ausbildungsprogramms, und beim Aufbau von Forschungs- und “Outreach”-Aktivitäten.

Diese 'Begegnung' zweier unterschiedlicher Kulturen, d. h. die Begegnung zwischen der lokalen Kultur und der Kultur der IPA, vermittelt durch das “Sponsoring Committee”, ist ein emotional hochgradig besetztes Ereignis, ein wirkliches Abenteuer, wenn man so will. Dabei treffen Bedürfnisse und Wünsche, Erwartungen, Neugierde, sowie Ängste und Zweifel auf der Seite der lokalen Gruppe mit dem enormen Engagement und Commitment für die Psychoanalyse und deren Weitergabe auf der Seite der 'Sponsoren' zusammen. Dabei überträgt sich das emotionale Engagement der lokalen Gruppe auf die Sponsoren und deren Bereitschaft zur Kooperation, erinnert sie doch der Enthusiasmus und die oftmals unglaubliche Motivation zu lernen, die von der neuen Gruppe ausgehen, an ihre eigenen Hoffnungen und Erwartungen, ihren eigenen Enthusiasmus, bei ihrer eigenen ersten Begegnung mit der Psychoanalyse. Dadurch entstehen nicht selten starke Bindungen, und es kommt zu 'emotionalen Stürmen', die vielleicht unvermeidlich, ja sogar notwendig sind, um solche Projekte voran zu treiben.

In jedem Fall handelt es sich um eine 'Begegnung', die beide an diesem Projekt beteiligten Parteien verändert. Es ist gewiss nicht die Absicht der ING, die Psychoanalyse dogmatisch und im Sinne eines geschlossenen Systems weiter zu geben. Auch wollen wir nicht lediglich Freud's theoretisches sowie erfahrungsgesättigtes Wissen, sowie dasjenige der prominenten psychoanalytischen Denker nach ihm, weiter vermitteln und lehren. Worum es uns vielmehr in erster Linie geht, ist die Aktivierung eines Potentials: die Fähigkeit analytisch zu denken, das humane Potential der Psychoanalyse und die ihr innewohnenden grundlegenden universellen Werte zu erkennen, ihr kritisches und weltliches Denken. Und so findet in dieser Begegnung immer auch ein gegenseitiger, reziproker Austausch statt: wir als Analytiker können gar nicht umhin – insbesondere wenn wir unter dem Eindruck von ganz fremden Kulturen stehen, mit einer völlig anderen Geschichte, anderen sozialen und pädagogischen Gepflogenheiten und Praktiken – all das, was wir bislang für selbstverständlich und womöglich unumstößlich erachteten, d. h. unsere psychoanalytischen Dogmen und Lehrsätze, immer wieder neu zu überdenken und kritisch zu hinterfragen, Allerdings dürfen wir bei all dem, was da an Neuem auf uns einströmt, nicht aus den Augen verlieren, dass wir parallel dazu auch noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben, nämlich die Übermittlung der psychoanalytischen Kultur und Erfahrung der IPA und deren demokratisches Führungssystem. Natürlich wird es dabei unweigerlich immer eine gewisse Spannung bzw. Reibung geben zwischen den beiden Kulturen; ob allerdings eine kreative oder eine destruktive Spannung daraus erwächst, hängt dann in der Hauptsache von der spezifischen Gruppendynamik im einzelnen Fall ab, aber auch davon, wie erfolgreich die Sponsoren die ihnen übertragenen Funktionen auszuüben in der Lage sind: Containment, Management, Vermittlung, Beratung, und vor allem die Fähigkeit, eine analytische Haltung aufrecht zu erhalten in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre. Allerdings müssen die Sponsoren auch zu dem in der Lage sein, was Javier Garcia mit 'disrobing' (Entkleidung oder die Kleidung ablegen) bezeichnet hat: gemeint ist damit die Fähigkeit – insbesondere wenn wir ein neues Territorium betreten –, “unsere gewohnte Arbeitsweise, die uns in unseren Heimatinstitutionen oftmals so lieb geworden war, ja bisweilen geradezu heilig, nun in der neuen Situation quasi zu demontieren”, und zwar um uns offen und empfänglich zu halten für all das, was “psychoanalytisch kreativ und anders” ist. (Garcia, 2011) Man darf wohl sagen, dass die Arbeit der Sponsoren, obzwar eine der anspruchsvollsten und schwierigsten, so doch auch eine der interessantesten, lohnendsten und bereicherndsten in der IPA ist.

Die Erfahrung lehrt uns etwas, was in gewisser Weise auf der Hand liegt: die Anfänge einer Gruppe sind für ihre zukünftige Entwicklung prägend. Dies wäre nun eine weitere Facette des 'ersten Mals', der ersten Begegnung. Wenn wir bedenken, um welche territorialen Gebiete es sich handelt, in denen die Psychoanalyse sich während dieser 'zweiten Welle' mit geradezu rasanter Geschwindigkeit ausgebreitet hat: Osteuropa, Lateinamerika, Ostasien, China, Taiwan, Korea, Südafrika - alles Länder, die massive historische und soziale Traumata erleiden mussten - dann kann man sich die Schwierigkeiten und Probleme vorstellen, mit denen sich die neuen Gruppen und die Sponsoren der ING-Kommission schon gleich bei ihrer ersten Begegnung oftmals konfrontiert sehen. Auf der einen Seite gibt es die Bereitschaft hinzuhören auf oftmals unermessliches menschliches Leid - auf der anderen Seite gibt es die Nachwirkungen der historischen Ereignisse auf die lokale Gruppe: trans-generationelle Transmission von Traumata und Konflikten, die Erbschaft der Geschichte, einschließlich verdrängter (oder auch nicht verdrängter) ethischer Streitfragen und Konflikte zwischen den Generationen, sowie Machtkämpfe. Die erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität der Sponsoren und der ING für die jeweilige ganz spezifische Gruppendynamik hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr als einer der wesentlichsten Bestandteile unserer Arbeit mit neuen Gruppen heraus gestellt. Heute wissen wir aus unserer langjährigen Erfahrung, dass diese anfänglichen Problem- und Fragestellungen, wenn man sich nicht gleich zu Beginn mit ihnen auseinander setzt, d. h. sie zur Sprache bringt, die Gruppe in ihrer nachfolgenden Entwicklung beeinträchtigen und behindern und früher oder später unweigerlich zu Abspaltungen und Teilungen führen.

Was entfacht die Flamme?

Paolo Fonda (Fonda, 2011) ist der Ansicht, dass ein totalitäres Regime, das seine Bevölkerung über einen langen Zeitraum hinweg unterdrückt und zur Passivität gezwungen hat, und das der Bevölkerung zwar zum Überleben genügend, wenngleich insgesamt schlechte Lebensbedingungen garantiert hat, beim plötzlichen Niedergang des Regimes dem Individuum damit Probleme und Entscheidungen aufbürdet, die vormals zu ihrer Erledigung an die sozialen Strukturen delegiert worden waren, was nun im Individuum tiefgreifende Überlebensängste und zuvor nicht gekannte Gefühle von Verletztlichkeit hervorruft, weswegen sich das Individuum nunmehr auf die Suche begibt nach Hilfe und Containment. Paolo Fonda ist der Überzeugung, dass durch die Tiefe und Geschwindigkeit solcher politischer und sozio-kultureller Veränderungen, wo nun plötzlich jeder Einzelne in einem zuvor nicht gekannten Maße auf seine eigenen inneren Resourcen angewiesen ist, ein allgemeines Klima geschaffen wird, das prädestiniert dafür scheint, im Individuum einen Wunsch nach Individuation entstehen zu lassen und dadurch auch ein vermehrtes Interesse und eine Offenheit für die Psychoanalyse. Wir haben es hier also mit folgendem neuen Phänomen zu tun: das Individuum löst sich aus der Gruppe heraus, welche es vormals sozusagen 'schützend in sich barg' und welches sich jetzt schutzlos und ausgesetzt fühlt. Dieses sozial-psychologische Phänomen bringt Fonda auch in enge Verbindung mit dem enormen Aufschwung und Boom, den die Psychotherapien in den letzten zehn Jahren erfahren haben. Er sieht das durchaus auch als Chance für die Wiederbelebung der Psychoanalyse an. Ein vergleichbares Phänomen können wir in China beobachten, wo die Konfuzianische Idee von der Zusammengehörigkeit und Harmonie der Familie, von Pflichten und Verbindlichkeiten - wenngleich repressiv dennoch Sicherheit bietend - heute vermehrt durch desorientierende und plötzliche sozio-ökonomische Veränderungen außer Kraft gesetzt und durch ein materialistisches Ethos ersetzt wird, wodurch sich wiederum unvermittelt ein Raum auftut für den Wunsch nach Individuation und der Suche nach einem spirituellen Leben.

Auf der anderen Seite können wir aber auch die Beobachtung machen, was für einen weitreichenden Einfluss Ideologien und politische Systeme auf Gruppen haben können, die in Ländern entstanden sind, wo vormals ein totalitäres Regime herrschte und politische Gewalt an der Tagesordnung war, und wie tiefgreifend diese Ideologien und politischen Systeme auch nach der Auflösung des alten Regimes weiterhin das Leben der Gruppe bestimmen. (Sebek, 1996. Garcia, 2015).

Ein komplexes Szenario:

Aber die Situation, wie sie die ING-Kommission heute sehr häufig vor Ort antrifft, gestaltet sich in vielen Fällen noch weitaus komplexer und verworrener als das noch vor einigen Jahren der Fall war: bevor wir in einigen der Ländern mit unserer eigentlichen Arbeit als ING-Sponsoren überhaupt aktiv werden können, müssen wir zuvor die sozio-politische Lage sorgfältig in Erwägung ziehen, die dort bisweilen ziemlich instabil, unvorhersagbar und u. U. sogar gefährlich ist, und wo die Implikationen, die das für die lokalen Gruppen sowie für unsere ING-Sponsoren haben kann, bisweilen nur sehr schwer einzuschätzen sind. Wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass es heutzutage nur noch wenige gänzlich 'neue', will sagen, unerschlossene Gebiete gibt: d. h. für gewöhnlich findet die ING vor Ort eine Situation vor, wo es bereits eine Vielzahl von psychotherapeutischen Organisationen, psychoanalytischen Seminaren, oder Ausbildungskursen gibt, allesamt mehr oder weniger qualifiziert, einige davon in Konkurrenz mit der IPA. Den Eindruck, den wir bei unserem ersten Auftreten hinterlassen, die Haltung, die wir dabei einnehmen, wenn wir uns innerhalb des engmaschigen Beziehungsgeflechts lokaler Organisationen zurecht zu finden versuchen - all das spielt mit Sicherheit immer eine entscheidende Rolle dabei, wie die Chancen für die nachfolgenden Entwicklungen der neuen Gruppe stehen, und ob sich daraus später in der Zukunft tatsächlich einmal eine IPA-Society entwickeln kann.

Die Empfehlungen und Ratschläge, die Freud im Jahr 1914 in seinen Aufsätzen zur Behandlungstechnik gab, und die dann in Bions Aufsatz “Notes on memory and desire” [“Anmerkungen zu Erinnerung und Wunsch”] (zitiert bei M. T. Hooke, 2010) einen viel beachteten Nachhall fanden, haben für uns bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren, sei es, wenn Analytiker und Patient sich im Behandlungszimmer begegnen, oder eben auch beim Erstkontakt mit einer anderen Kultur: eine offene, rezeptive Geisteshaltung, frei und möglichst unbelastet und unvoreingenommen von Erwartungen, Neigungen und (Vor)urteilen! Beide, sowohl Freud als auch Bion, gaben dem Analytiker den Rat mit auf den Weg, offen und empfänglich zu sein für das Unbekannte. Allerdings wussten auch beide nur all zu genau, dass die Angst vor dem Unbekannten eine zutiefst menschliche Erfahrung darstellt, und also gleichermaßen im Analytiker wie auch im Patienten tief verwurzelt ist, und deswegen natürlich auch beim Erstkontakt mit einer anderen, fremden Kultur nicht ausbleibt. Eine solche geistige Offenheit setzt auch voraus, dass wir über die psychoanalytische Fähigkeit verfügen, über die Universalität der Grundannahmen unserer Psychoanalyse kritisch reflektieren zu können und dadurch möglicherweise erkennen, dass diese von der Psychoanalyse propagierten Grundannahmen auch in einem ganz anderen kulturellen Kontext, wenngleich vielleicht in einer ganz anderen Form, Anwendung finden können.

Die Aktivitäten und Aufgaben der “International New Groups”-Kommission beschränken sich also keineswegs nur auf den administrativen Bereich. Es ist uns vielmehr ein wirkliches Anliegen, ein Container für kulturelle Vielfalt und kulturelle Verschiedenheiten zu sein; jemand, der die Fähigkeit hat, die Angst vor dem Unbekannten zu modifizieren und zu transformieren; jemand, der ein Forum anbietet für einen offenen Dialog, wo in einer ernsthaften und lebendigen Atmosphäre ein gemeinsamer Austausch von Erfahrungen stattfinden kann.

LITERATUR:

Fonda P. (2011) A Virtual Training Institute in Eastern Europe. IJPA 92: 695-713

Garcia J. (2011) The training of psychoanalysts in Latin American countries without IPA institutions: Antecedents, experiences and problems encountered. IJPA 92: 715-731
Garcia J. (2015) The Opening of Psychoanalysis to new spaces and new cultures - Latin American perspective of the experience and future proposals (unpublished paper to be presented at IPA Boston Congress 2015)

Hooke M. T. (2013) Psychoanalysis in Asia, China, India, Japan, South Korea, Taiwan. Introduction xiii –xxvi, Karnac London 2013
Hooke M. T. (2010) The internal attitude of the analyst. From Freud’s free floating attention to Bion’s reverie. http://freud.or.kr.2011

Preta L. (2014) Psychoanalysis; an updated map of the psyche. The Geographies of Psychoanalysis. IPA Website

Sebek M. (1996) Das Schicksal der totalitären Objekte. Wo stehen wir mit unseren Patienten. In: Kerz-Rühling, I. & Plänkers, T. (Hrsg.) Sozialistische Diktatur und psychische Folgen. Tübingen: edition diskord, 2000

MTH email: mthooke@bigpond.net.au

Aus dem Englischen übersetzt von M. A. Luitgard Feiks und Juergen Muck, Nuertingen am Neckar

 

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