Das Licht dringt ein und tastend steigt es empor
Aus Träumen in den gemeinsamen Traum.
Und die Dinge stehen wieder dort, wo sie hingehören
Und wo wir sie erwarten. Und in die Gegenwart
Mündet schwer und umfangreich das
Unbestimmte Gestern…..
Jorge Luis Borges [1]
In meiner Arbeit als Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene unterstützte und inspirierte mich Susan Isaacs Artikel "Naturaleza y función de la fantasía", der 1948, also vor 70 Jahren, geschrieben wurde. Er öffnete mir einen Weg zu einem besseren Verständnis von Aspekten des Unbewussten, besonders des frühkindlichen Unbewussten. Die "unbewusste Phantasie" ist wie ein Stempel, der tiefe Spuren in Geist und Körper hinterlässt und der Realitäten, Charakterzüge, Abwehrmechanismen, usw. in uns entstehen lässt und uns so zu dem Menschen macht, der wir sind.
Ich möchte die Spuren, die diese erste Phantasie hinterlässt und die Art und Weise, wie diese ein Leben lang wirksam bleibt, hier anhand von Fallvignetten demonstrieren, und Überlegungen darüber anstellen, in welcher Form wir davon lernen und sie in die Arbeit mit Patienten jeden Alters einbringen können.
A.
[2] ist eine Frau von 59 Jahren, die versucht hat, sich mit einer Überdosis Schlafmitteln das Leben zu nehmen. Ihr Mann hat sie wegen ihres lauten Schnarchens entdeckt. Sie wollte nicht geweckt werden, war ärgerlich, weil ihr sehnlicher Wunsch vereitelt wurde. Sie sagte, sie habe es zu diesem Datum gemacht, weil sie die Sommerferien mit einer Traurigkeit verlebt habe, die sich nicht erklären ließe.
Wir versuchen, dies im Laufe ihrer Behandlung zu verstehen. Nach und nach beginnt sie, zu einem Ereignis zu assoziieren, das erst kürzlich stattgefunden hat: ihr älterer Sohn hat sich gerade getrennt, eine Situation, die ihr sehr zugesetzt hat. Auch wollte ihr Mann in der Nacht des Selbstmordversuchs Sex haben, und da sie sich nicht weigern konnte, obwohl sie nicht wollte, fühlte sie sich wie eine Prostituierte. Sie fügt hinzu: "Ich habe nie gerne Sex mit ihm, es ist einfach eine Pflicht."
Als wir uns ihrer persönlichen Geschichte zuwenden, erzählt sie, dass ihre Mutter starb, als sie 7 Jahre alt war. Ihre ältere Schwester sagte beim Begräbnis zu ihr: "
Die Mama ist weggegangen." und sie sieht ein paar Autos – vermutlich die des Trauerzugs – wegfahren. Dann wird alles traurig und trostlos. Dieser vergessene Satz lässt sie an die Verlassenheit der sommerlichen Straßen denken, was noch zur Trennung ihres Sohns hinzukommt und zum Umstand, dass ihre Enkel ebenso alt sind wie sie es war, als ihre Mutter starb. Welche Phantasie hatte dieses siebenjährige Mädchen, als es den Satz "
Die Mama ist weggegangen" hörte?
Wohin ist sie gegangen? Es gab außer diesem Satz keine weiteren Erklärungen. Später erinnert sie sich, dass seit dem Tod ihrer Mutter ihr Zuhause und ihre Familie verschwanden und sie als jüngere Tochter in Verlassenheit und Vertreibung bei Verwandten zurückblieb, sie hat das Gefühl, dass sich die Geschichte vom Aschenbrödel wiederholte. Sie erinnert sich, dass sich in ihrer Seele ein Loch bildete, in dem Kälte und Leere eins waren.
"
Die Autos, die im Sommer wegfahren", lassen eine leere Stadt zurück, leer, wie sie zurückgeblieben war, als "die Mutter wegging". Die wahrscheinliche Phantasie ist: "was weggeht, kommt nicht wieder", wodurch sich Trennung mit Tod auflädt. Freud "
bewies, dass die innere Welt der Psyche eine eigenständige, kontinuierliche, lebendige Realität mit ihren eigenen dynamischen Gesetzen und Merkmalen besitzt, die sich von jenen der äußeren Welt unterscheiden." (Freud, zitiert nach Isaac)
[3]
A. kommen weitere Erinnerungen, sie sieht sich in kalten Winternächten durch unbekannte Straßen streifen, auf den Tagesanbruch wartend, weil der Vater, wenn er betrunken war, Frau und Kinder zwang, das Haus zu verlassen. Wenn sie es nicht taten, wurde die Mutter entsetzlich verprügelt. A. assoziiert damit, dass sie niemals sexuelle Lust empfunden hat, auch nicht den geringsten Anflug sexuellen Verlangens, und das dies vielleicht dem Umstand geschuldet ist, dass sie den Sex zwischen ihren Eltern miterleben musste, echte Vergewaltigungen, bei denen sie das Atemgeräusch des Mannes stets in Verbindung mit dem Weinen der Mutter hörte. Isaac sagt: "
Nun ist aber nach Auffassung heutiger Autoren dieser »psychische Ausdruck« gleichzusetzen mit unbewusster Phantasie. Phantasie ist (in erster Linie) das psychische Korollar, die psychische Repräsentanz des Triebes. Es gibt keinen Impuls, weder Triebbedürfnis noch -reaktion, der nicht als unbewusste Phantasie erfahren würde."
[4]
Obgleich A. einen starken Charakter besaß und in der Lage war, eine ganze Reihe schmerzlicher Erfahrungen zu überleben, haftete sie doch an diesen Erlebnissen der Mutter, die sich mit ihren eigenen vermischten und so ein Bollwerk bildeten, das sie daran hinderte, einen Mann zu lieben. Ihr Ehemann erbte die Erfahrungen von Missbrauch und Misshandlung, wie es sie zwischen ihren Eltern gegeben hatte. Wahrscheinlich wurde A. auch unter solchen Bedingungen gezeugt. Nie gestattete sie sich, einen Mann zu lieben oder zu begehren oder gar den sexuellen Phantasien nachzugeben. Sich hinzugeben und fortreißen zu lassen, auch nur für einen einzigen Augenblick, war unmöglich, da dies für sie das Gleiche bedeutete wie Sterben.
Isaac erinnert uns: "
[D]ie psychischen Repräsentanzen […]libidinöser und destruktiver Triebe […] müssen als die frühesten Anfänge von Phantasien verstanden werden. In der psychischen Entwicklung des Säuglings aber wird die Phantasie auch zum Mittel der Abwehr gegen Ängste, zu einem Mittel, Triebregungen zu zügeln und zu kontrollieren, und auch zum Ausdruck von Wiedergutmachungswünschen."
[5]
Vielleicht wurde die Phantasie des Sexualakts als gefährliche und zerstörerische Verschmelzung der Lebens- und Todestriebe empfunden, die, so meine Hypothese, in Anbetracht der Beziehung ihrer Eltern wohl von Geburt an phantasiert wurden. Isaac erläutert: "
Alle Impulse, alle Gefühle, alle Formen der Abwehr werden in Phantasien erlebt, die ihnen psychisches Leben verleihen und ihre Richtung und ihr Ziel anzeigen. Eine Phantasie repräsentiert den jeweiligen Inhalt der Regungen oder Gefühle (z. B. Wünsche, Befürchtungen, Ängste, Triumphe, Liebe oder Kummer), die die Psyche in diesem Moment beherrschen. Im frühen Leben gibt es allerdings eine Fülle an unbewussten Phantasien, die in Verbindung mit der Besetzung betonter Körperzonen eine spezifische Form annehmen. [6]
Der Umstand, dass A. viel rauchte, und ihr Selbstmordversuch auf oralem Weg stattfand, brachten mich auf den Gedanken, dass in dieser Frau die geliebte und die gehasste Brust in der Phantasie und wahrscheinlich auch in der Realität nicht voneinander zu trennen waren.
B. hat zwei Söhne, sie konnte für ihre Kinder die Funktion des Haltens nicht ausüben, weder in der Schwangerschaft noch nach der Geburt. Beide Kinder brachte sie im 7. Monat der Schwangerschaft per Kaiserschnitt zur Welt, von Beginn der Schwangerschaft an bestand die Gefahr, die Kinder zu verlieren, B. musste strenge Bettruhe einhalten und dann kam es jeweils zur Frühgeburt. B. berichtet über diese Ereignisse emotionslos, fügt noch hinzu, dass sie keine Zuneigung zu ihren Söhnen empfindet, mit dem zweiten begibt sie sich auf eine einmonatige Reise, als der Junge erst einen Monat alt ist.
Niemals hat sie sie gestillt, sie spricht mit Ekel davon, sie scheint ohne Verbindung zu ihren Kindern zu sein, hat das Gefühl, dass sie sie nicht versteht und die Kinder sie stören. Ebenso emotionslos erinnert sie sich daran, dass sie selbst zu früh geboren wurde, im 6. oder 7. Monat der Schwangerschaft, und nur 1,5 kg wog; sie musste auf der Neugeborenenstation bleiben und in dieser Zeit besuchte ihre Mutter sie kein einziges Mal, weil man ihr gesagt hatte, ihr Kind könne sterben und sähe übel aus.
B. ist sehr zart, hat viele Ticks und psychosomatische Krankheiten. In unserem Gespräch spüre ich, dass sie angesichts meiner Präsenz verzweifelt ist, wie erstickt, sie schließt und öffnet die Augen im Rhythmus ihrer Ticks. Sie berichtet, dass sie ihren jüngeren Sohn nicht versteht, sagt, er sei nicht auszuhalten, voller psychosomatischer Krankheiten. In diesem Augenblick läutet ihr Handy, es meldet sich dieser jüngere Sohn, ich höre ihn schreien.
B. spricht mit ihm in ängstlichem und ärgerlichem Ton. Ich bedaure diese Frau, ich stelle sie mir in einer Frühgeborenenstation vor, umgeben von Sonden, Kabeln, Monitoren, eingesperrt in einen Inkubator. Ich glaube, dass sie sich angesichts der Phantasie, zu sterben, ins Nicht-Fühlen retten musste. Vielleicht ist es dieser Abwehrmechanismus, den sie ihren Söhnen entgegenbringt und auf sie projiziert. Isaac schreibt: "
Jedes Detail des Symptoms [.] drückt eine spezifische Phantasie aus. Und die unterschiedlichen Verschiebungen in Form, Intensität, betroffenem Körperteil spiegeln die Veränderungen in der Phantasie, die in Reaktion auf äußere Ereignisse oder inneren Druck auftreten."
[7]
B. fügt hinzu, sie habe in den ersten Lebensmonaten Hautprobleme und viele Koliken gehabt; man könnte meinen, B. habe es an einer haltenden Haut gefehlt, die ihr Geborgenheit und Ruhe gegeben hätte; wahrscheinlich sind die Mechanismen der Selbst-Stützung ihre Verdauungsstörungen, in denen der Schmerz eine Form des Sich-Selbst-Spürens ist. Vielleicht nimmt sie Zuflucht zu den Krankheiten, weil sie dies früh gelernt hat, um gesehen zu werden und etwas zu fühlen. Ich nehme wahr, wie schwer mir eine Kontaktaufnahme mit ihr fällt. Ich fühle ihr Misstrauen gegen Nähe und Bindungen. "
Die frühen Phantasien entspringen also Körperimpulsen und sind mit körperlichen Empfindungen und Affekten verwoben. Sie drücken in erster Linie eine innere und subjektive Realität aus, sind jedoch von Beginn an mit einer tatsächlichen, wenn auch begrenzten und geringen Erfahrung objektiver Realität verbunden."
[8]
B. beschreibt sich als heikel beim Essen, sie sagt, sie habe eine Zöliakie. Dies wurde vor vier Jahren diagnostiziert, auch wenn sie bereits seit langer Zeit Probleme mit der Verdauung hatte. Ich bringe die Zurückweisung des Essens mit einem Fehlschlagen der oralen Libidinisierung in den ersten Lebenstagen in Verbindung. Man weiß, dass ein Baby mit diesem Gewicht und diesem Grad von Unreife keinen Saugreflex aufweist, und andererseits vermeidet man, so ein Kind oral zu ernähren, weil dies einen enormen Energieaufwand darstellt. Frühgeborene müssen über eine Sonde ernährt werden, bis sie ein Gewicht von 2 kg erreicht und den Saugreflex entwickelt haben. Die Mutter nährte B. nicht, nicht mit ihrer Gegenwart, nicht mit ihrer Milch, und B. brauchte das Krankenhauspersonal und Rezeptformeln für ihre Ernährung, beides künstliche Elemente für einen noch unreifen Geist und Verdauungstrakt. Diese frühen Erfahrungen schufen in ihr einen Modus des Fühlens und Misstrauens. "
Die ersten körperlichen Erfahrungen beginnen die ersten Erinnerungen zu bilden und äußere Realitäten werden schrittweise mit der Textur der Phantasie verwoben."
[9]
C. ist ein kleines Mädchen, das vor kurzem als Frühchen im 7. Monat der Schwangerschaft zur Welt kam. Erst nach einem Monat und einer Woche darf sie gestillt werden, wegen ihres anfänglich sehr instabilen Gesundheitszustands und wegen der Erschöpfung, die das Saugen bei ihr auslöste. Ihre Mutter blieb nach der Geburt auf der Frühgeborenenstation. Sie gab ihr zuerst durch eine Nasen-Magen-Sonde, dann durch eine Milchpumpe Muttermilch zu trinken. Nach einigen Tagen legt sie sie an die Brust, C schnüffelt an der Brust, krümmt sich, gibt ihr Küsschen und liebkost sie, bevor sie zu trinken beginnt und dabei zarte, sanfte Laute von sich gibt. Isaac schreibt: "
Den gesamten mittleren Teil des ersten Jahres hindurch streckt sich die Hand des Säuglings nach allem aus, was er sieht, um es in den Mund zu stecken und zunächst auszuprobieren und zu essen, dann zumindest, um daran zu saugen und zu kauen, und später, um es zu befühlen und zu untersuchen. {…] Das bedeutet, dass die Objekte, die der Säugling berührt und befingert und anschaut und erforscht, mit oraler Libido besetzt sind. Er könnte kein Interesse an ihnen haben, wenn es nicht so wäre. Wenn er in irgendeinem Stadium vollständig autoerotisch wäre, könnte er nie lernen."
[10]
D. hatte als Baby beim Saugen an der Mutterbrust keine Luft bekommen, es gab ernste Komplikationen dabei, ihn an die Brust zu gewöhnen und seine Gier und die Wut, die diese Einschränkungen in ihm auslösten, im Zaum zu halten. Seine übermäßige Neugier führte dazu, dass er bereits mit 9 Jahren Pornos anschaute und heute, mit 11 Jahren, hat er Freude an Rätseln. Diese Entwicklung lässt sich als der heftige Wunsch verstehen, in den Körper der Mutter zu schlüpfen, sie vampirhaft zu verschlingen. Nun ist es ihm gelungen, diesen Aspekt durch sein Interesse an Wissenserwerb und an der Lösung von Rätseln zu sublimieren, wobei er so die orale Phantasie weiterentwickelt. Vielleicht war es bei D. ja so: "
Die triebhafte Energie, Dinge durch Augen und Finger (und auch Ohren) in seine Psyche aufzunehmen, zu schauen und zu berühren und zu untersuchen, befriedigt einige der oralen Wünsche, die von seinem ursprünglichen Objekt frustriert worden sind. Leben und Wachstum von Wahrnehmung und Intelligenz schöpfen aus dieser Quelle der Libido. In unbewusster Phantasie und häufig, wie wir gesehen haben, in bewusster Metapher behalten Hand und Auge lebenslang eine orale Bedeutung."
[11]
Was können wir also von der Kindheit lernen? Dass unsere Welt auf unbewussten Phantasien beruht, sie machen uns reicher und ärmer. Vielleicht besteht unsere Arbeit als Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen darin, dabei zu helfen, diese Phantasien zu entdecken und sie, soweit möglich, verständlich zu machen. …..
Bibliografie
Isaac S. Naturaleza y función de la fantasía, En Klein, M, Heimann P., Isaac S, Riviere J. Desarrollos en Psicoanálisis. Kap. III. Hrsg. v. Hormé, Buenos Aires. 1a. Spanische Ausgabe (1962).
Deutsche Ausgabe: Wesen und Funktion der Phantasie, übersetzt von Barbara Strehlow, in: PSYCHE, Heft 6, Juni 2016, 70. Jahrgang, S. 530 - 582.
[1] Gedicht "El despertar" ["Das Erwachen"] von Jorge Luis Borges, übersetzt von Susanne Buchner-Sabathy.
[2] Patientin A macht eine Therapie in drei Abschnitten.
[3] Isaac, S. (1948/2016), Wesen und Funktion der Phantasie, S. 548.
Übersetzung: Susanne Buchner-Sabathy, Vienna